Sonntag, 19. Juni 2016

Mein Hund ist tot









Es ist Samstag-Nachmittag und er betritt die „Halle“. Gisela wartet schon auf ihn, steht an der Theke. Da, wo sie immer steht, wenn er kommt. Wenn sie nicht gerade vor der vorderen oder hinteren Tür steht und raucht. In dem schmalen Durchgang zwischen Theke und „Aquarium“, dem viereckigen Kassenbereich, in dem sich die Wechselkasse, der Tresor und die Videoüberwachung hinter dicken Panzerglasscheiben befindet.

Anders als sonst begrüßt sie ihn heute nicht mit ihrem charakteristischen Lachen, als er voll beladen reinkommt, die Computertasche in der einen und deinen Rucksack in der anderen Hand, Kopfhörer im Ohr und das rot-blau gestreifte Bayern-Trikot aus der Champions-League-Siegersaison  2013 unter der braunen Lederjacke. Heute will ihr in der Tat noch nicht mal ein süffisantes Grinsen über die Lippen kommen. Aber das fällt im erst später, erst im Nachhinein auf, als sie schon gegangen ist. Kein Lachen/Lächeln, das ihn immer so nervt, so aus der Fassung bringt, weil er es partout nicht schafft, es einzuordnen: Handelt es sich nun um ein ironisches oder gar hämisches Lachen/Lächeln oder soll diese selbstbewusste, überlegen wirkende Lache nur die darunter liegende Verlegenheit und Unsicherheit kaschieren. Quasi als psychischer Selbstverteidigungsmechanismus. Oder ist es vielleicht sogar ein bewusst entwertendes, immer leicht verächtliches Lächeln, das ihm zeigen soll, wer hier die Hosen anhat, wer hier das Sagen hat. Bei manchen Leuten kann man das echt nicht sagen, ob die das extra machen oder nicht oder ob das von Natur aus so ist…

Sie geht zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und er sagt im Vorbeigehen leise, leicht schüchtern, aber auch leicht verschmitzt „Hallo“ und tritt hinter die Theke.

Nachdem sie ihn durchgelassen hat, nimmt sie gleich wieder ihre Position am Ende der Theke ein, den Durchgang blockierend.

„Diese Woche war echt der Horror, eine schlimme Woche…“, sagt sie.

Er legt seine Sachen hinter der Theke ab, zuerst seine Computertasche, dann sein frisch gekauftes Fladenbrot und zu guter Letzt seinen Rucksack schräg darüber.

„Echt?!“ sagt er in einer Mischung aus echtem Desinteresse und leicht morbider – oder doch schon makaberer? – Neugier.

„Vielleicht wird ja die nächste Woche besser…“, nuschelt sie hinter den Scheiben des Kassenbereichs.

„Apropos nächste Woche…“, nimmt er ihre Steilvorlage prompt auf, denn er braucht dringend noch jemand, der für ihn zwei Stunden übernimmt. Und da trifft es sich ja gut, dass sie ihm noch genau zwei Stunden schuldet.

Sie stellt sich neben ihn an die Theke, guckt ihn an.

„Stimmt, nächste Woche ist ja wieder…“

„Genau. Wie viele Stunden schuldest du mir noch mal?“ fragt er, obwohl er genau weiß, wie viele es sind. Das war kein Witz, wo ich letztens gesagt habe, dass ich die zwei Stunden, die du mir noch schuldest gewinnbringend anlegen werde!

„Zwei“, antwortet sie.

„Ginge das? Die nächste Woche einzulösen?“ fragt er zögernd, fast schon ein bisschen ängstlich.


„Dass der Dieter die macht…oder du...“

„Die werde wahrscheinlich dann ich machen“, sagt sie.

Cool.

„Ok.“

Geil! Result, ya motherfucker!

Sie stellt sich wieder zurück in den Eingang zum Thekenbereich.

„Mein Hund ist tot“, sagt sie.

Scheiße, denkt er. Und sagt er auch: „Scheiße.“

„Am Montag ist er gestorben.“

„Am Montag?“ Sollte er nicht da zum Tierarzt. Zur Kontrolle. „Wolltest du nicht da zum Tierarzt?“

„Vor dem Tierarzt. Noch vor dem Tierarzt.“

„Ach, so. Das tut mir leid…“ Er berührt leicht ihre Schulter. Das ist das Einzige, was er machen kann, um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Er denkt zwar einen Moment lang darüber nach, sie zu umarmen, aber das geht irgendwie nicht. Das geht dann doch zu weit. Aber wenigstens ihre Schulter berührt er. Zum Trost. Er weiß, wie das ist, ein geliebtes Wesen zu verlieren.


„Mein herzliches Beileid.“ Sagt man das bei einem Hund. Egal, er hat es gerade getan und immerhin war der Hund wahrscheinlich ihr Ein und Alles. Sie hat ja keine Kinder. Und keinen Mann. Und ihr Vater ist auch vor kurzem gestorben. Jetzt hat sie nur noch ihre Mutter. Dieses Leben ist…

„Danke.“

Er schüttelt mit dem Kopf.

„Das ist das Leben. Das ist nun mal das Leben.“ So ist das Leben.

und du hast mir vor Wochen noch gesagt, dass du eigentlich glücklich bist…

Und er hat es ihr schon damals nicht wirklich geglaubt, war skeptisch. Wie kann denn jemand anderes glücklich sein, wenn er es nicht ist. Vielleicht noch nie war. Oder zumindest seit der Trennung nicht mehr war.

„Der ist in meinen Armen gestorben.“

„Echt. Wie mein Zwergkaninchen damals, in meiner Jugend. Das ist auch bei mir in den Armen gestorben…“

Du hast gesehen, wie es die Augen geschlossen hat…

Kurz denkt er darüber nach, ob ein Zwergkaninchen mit einem Hund zu vergleichen ist, aber für einen 16-Jährigen bestimmt. Andererseits war der Hund wie ein Kind für sie. Innerlich ringt er um etwas, das er sagen könnte, aber ihm fällt nichts ein. Etwas, das ihr zumindest einen Teil des Schmerzes nehmen könnte. Aber das ist so schwer. Am Ende sagt er nur, ein bisschen unbeholfen: „Der war ja auch immer hier…“

Sie sagt nichts.

„…war ja auch süß, wenn er hier war.“

…ist ihm immer nachgelaufen. Oder dem Essen in seinem Rucksack? Chicano hieß der und das ist das erste Mal, das er Gisela so sieht.

Chicano…“ sagt er laut, so als könnte er ihn wieder heraufbeschwören. Wieder zurückbeschwören. Aber das ist hier nicht der Friedhof der Kuscheltiere.

Er denkt darüber nach, wie seine Mutter sich fühlen würde, wenn ihr Chihuahua sterben würde. Bestimmt genauso. Irgendwie…und darauf ist er nicht stolz…wünscht er ihr das…dieses Gefühl. Ihr, die immer gesagt hat: Du sollst nicht lästern. Das wünscht man keinem. Aber er kann nichts dafür, so denkt er halt.

„Willst du keinen Neuen?“ fragt er Gisela. „Einen Welpen.“

Wie in Marley und Ich. Wo die nach Marleys Tod sich direkt wieder einen Neuen kaufen. Er weiß noch, wie er den Film mit María geguckt hat. Nadine war damals in Ecuador, weil er Vater gestorben war. Überraschend. Der Tod kommt immer „überraschend“.

„Nein.“

Er will auch keine Neue. Obwohl die bestimmt irgendwann kommen wird. Schwul wird er jedenfalls (leider) in diesem Leben nicht mehr. Und ein alter Jungmann wohl auch nicht.

Sie will schon gehen, als er sagt: „Das ist bestimmt hart. Wenn man immer mit dem Gassi gegangen ist. Und jetzt fällt das weg. Auf einmal. Die ganze Routine…“, sagt er und redet sich damit noch mehr um Kopf und Kragen.


„Das ist bestimmt schwer. Dann fehlt auf einmal was…“

wenn man immer mit ihr in den Wald gegangen ist, laufen gegangen ist, überall mit ihr hingegangen ist, immer nur mit ihr…dann fehlt einem was, wenn sie dann nicht mehr da ist

„Ja, genau…“, sagt sie bestätigend, so als wüsste er ganz genau wie es in ihrem Inneren aussieht, wie sie sich gerade fühlt. Weiß er ja auch. Wie in Trance. Schockstarre. Alles ist irgendwie wie in Watte gepackt. Un gleichzeitig unendlich hart. Du hast einen Chicano verloren und ich eine chica. Wenn du wüsstest… Ich weiß genau, wie du dich fühlst. So fühle ich mich schon seit letztem Jahr. Seit dem ersten März. Alles neu macht der März. March is the cruellest month…

„Genau“ sagt sie. „Das ist das.“

Das ist Scheiße. Ohne Ende.

„Ich weiß noch, wie der hier war. So klein…“ Wie der mit nachgelaufen ist…

So wie Nadine. So klein. Und trotzdem vermisst man sie so sehr, wenn sie nicht mehr da ist. Irgendwie habe ich das Gefühl als würde sie gleich anfangen zu heulen. Tut sie dann aber doch nicht. Sie ist halt hart. Frauen sind viel härter als Männer. Das bestätigt sich immer wieder.

„Die Woche war die Hölle. War schlimm. Ich hab hier geputzt, aber so richtig…“

Sie guckt mich an, als wäre das alles sinnlos gewesen. Als würde das alles nichts mehr bedeuten, jetzt, wo ihr Hund tot ist.

So fühle ich mich schon seit über einem Jahr, sagt er nicht, aber denkt er. Wenn du wüsstest.

 „Ich hab den schon beerdigt.“

Wo, hinterm Haus oder was?! Mein Zwergkaninchen haben wir damals hinterm Haus beerdigt. Auf diesem schmalen, steinigen Streifen zwischen dem Gartenzaun unserer Nachbarn – damals lebte der Mann von Frau Bosse glaub ich noch – und der Hauswand.

„…bin ich gestern in die Eifel gefahren.“

„In die Eifel?“

Wenn du wüsstest, was ich gelitten habe. Obwohl sie nicht gestorben ist. Das ist ja das Schlimme. Nein, so meine ich das nicht. Das ist noch viel schlimmer. Der Tod ist definitiv…aber seine Trennung von Nadine…ist noch viel definitiver. Aber das wirst du ihr jetzt nicht sagen. Selbst jetzt nicht. Selbst jetzt bist du noch unehrlich. Ein Jahr und drei Monate nachdem Nadine gegangen ist. Nach 19 Jahren. Du kannst immer noch nicht zugeben, dass du verlassen wurdest. Von der ersten Frau in deinem Leben. Der ersten und letzten großen Liebe. Weil du den Verlust immer noch nicht überwunden hast. Und weil du nicht Stadtgespräche werden willst. Männer sind die größten Klatschtanten. Und hier arbeiten fast nur Männer. Selbst jetzt sagst du es ihr nicht. Die präsentieren dir her eine Gelegenheit nach der anderen und du…belügst sie und dich selbst noch immer. Schäm dich!

Die wissen das wahrscheinlich ja eh. Weil sich deine Steuerklasse geändert hat. Weil du sie ändern musstest. Vier Monate zu spät.

Du möchtest es ihr ins Gesicht brüllen: „Ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst. Weil meine Frau gegangen ist…mich verlassen hat. Einfach so, von heute auf morgen.  Aber ist der Tod eines Hundes nicht viel schlimmer als die Trennung von einer Frau, die dich nicht mehr will, die nicht mehr mit dir zusammen sein wollte. Oder wird andersrum ein Schuh draus. Wenn du jetzt anfangen würdest zu reden…dann wäre sie Morgen früh noch hier. Wenn du jetzt ehrlich wärst…

Bist du aber nicht. Weil es noch immer zu hart ist, zu schwer ist, zu sehr weh tut.

Der Hund war wenigstens treu. Nicht wie Nadine… Du kannst dich des Gedankens nicht erwehren. Er kommt dir einfach so in den Kopf. Dann ist das vielleicht noch viel härter für sie. Der Hund hat sie geliebt. Oder ist es andersrum härter? Wenn man nicht geliebt wird. Und das irgendwann, nach langer Trauer, merkt?

„Hab ich Morgen Dienst?“ fragt er sie.

Sie überlegt einen Moment, sagt dann: „Nein, ich habe Morgen Dienst.“

„Ach so. Ist vielleicht auch besser so. Arbeit ist gut. Dann musst du nicht so viel denken… Besser, dass du arbeitest.“

War bei mir auch so, was meinst du, warum ich die letzten nunmehr (was für ein Anwaltsausdruck!) fast 1 ½ Jahre so viel gearbeitet hab?! Aus Spaß an der Freud bestimmt nicht. Wenn die Familie wegbricht, federt dich die Arbeit wieder ab, gibt dir wieder eine Perspektive.

Scheiße, ich hab frei, denkt er. Sonntags frei und der Tag ist gelaufen. Den ganzen Sonntag. Horror. Das war ein Horror-Sonntag. Alleine, ohne María und natürlich ohne Nadine in deiner unaufgeräumten, kleinen Wohnung. Die eigentlich nur ein Zimmer hat, wenn man mal von Nadines Zimmer absieht, in dem du dich nie aufhältst.

„Das ist gut…“ lügst du weiter. „Dass du jetzt arbeiten kannst. Dann kannst du vielleicht ein bisschen abschalten. Auf der Arbeit. Ist vielleicht auch besser…“

Ich will auch arbeiten. Bitte! Ich will nicht alleine Zuhause sein.

Als sie gegangen ist, denkst du: Der Hund hatte es an der Lunge. Und die hat geraucht.

Na und: Du hast gestritten. Und geschrien. Und „Theater“ gemacht.

Du denkst: Ist die wirklich für einen Hund in die Eifel gefahren? Und wo hatte sie den Hund? In einer Kühlbox?

Wie war das eben mit dem Psychologischen Selbstverteidigungsmechanismus?

Wenn du reden würdest…

Dein Körper ist von Leid gesättigt wie der Boden von dem Hochwasser letzte Woche.


Und warum kann ich nicht arbeiten, denkt er, schließlich habe ich eine Frau verloren. Und die nur einen Hund…