Donnerstag, 21. Dezember 2017

Drei Tage vor Weihnachten


  
Er hat sich direkt unterm Fenster
An einem Balken aufgehängt,
Man kann die Kirchenglocken von hier hören,
Wenn man ganz leise ist 
Ein Tagebuch liegt auf dem Tisch,
Der letzte Eintrag ist noch frisch
Nur einen Satz schrieb er groß und breit
 
„Ich bin hier und Bethlehem ist weit
Frohe Weihnacht, ich hoffe es geht euch gut,
Seid nicht böse über meine Flucht
Ich schau' euch trotzdem von hier oben beim Feiern zu“
(Die Toten Hosen - "Weihnachstmann vom Dach")

  







Hast du Geld?“

Sie steht am Kühlschrank, holt die Knusper-Gockelchen raus, die du so liebst. Die von Aldi. Deine Knusper-Gockelchen. Um sie sich zu machen. Ok, sie hat gefragt, aber… Zwei Stück! Dann ist gleich keiner mehr übrig für dich. Oder nur einer. Da lohnt sich ja fast nicht, den überhaupt zu machen. Um eins, nachdem du die 16 Stunden Intervall-Fasten hinter dich gebracht hast, um die Kilos zu verlieren, die du dir in der letzten Zeit angefressen hast. Bestimmt bist du wieder über hundert Kilo. Hundertpro. Vielleicht sogar über 110.





Du lässt das, was sie gesagt hat, erst mal sacken, denkst, willst sagen: Nein, weiß du doch! Aber DU weißt, dass das nichts bringt. Diskutieren bringt nichts. In einer anderen Welt vielleicht, aber nicht in dieser. Das hast du gelernt, das hat die Trennung/Scheidung dir beigebracht. Dass dies keine andere Welt ist. Das alles hier verlogen, nur an Geld und an sich selbst interessiert, opportunistisch, egoistisch ist. Und wenn du nur eine Minute länger hier überleben willst, du genauso werden musst. Oder noch besser: Noch verlogener, noch stärker an Geld und an dir selbst interessiert, noch opportunistischer, noch egoistischer. Aber es zerreißt dir das Herz… Du kannst sie doch hier nicht betteln lassen, du gibst ihr auch so schon viel zu wenig, bietest ihr nichts als Vater. Nicht wie andere Väter. Andere Väter reißen sich den Arsch auf, für ihre Kinder. Nicht wie du, du faules Arschloch. Du denkst an die zwei Zehner, die du noch in deinem Portemonnaie hast. Einen könntest du ihr ja geben…

…aber etwas stoppt dich, lässt dich innehalten…lässt dich nichts sagen…

…obwohl es dir das Herz zerreißt…so kurz vor Weihnachten…

…obwohl du Angst hast, sie zu verlieren, wie du alles in deinem Leben verloren hast…nicht gut genug zu sein…dass sie zu ihrer Mutter geht…und da bleibt…für immer…weil du ein Scheiß-Vater bist.

So kurz vor Weihnachten.

So kurz vor Weihnachten…


Also sage ich nichts.

Und dann doch: „Gib mir die Nummer von deiner Mutter. Dann ruf ich die an und erinnere sie an das Kindergeld. Was sie kriegt, ohne mir was abzugeben. Obwohl du öfters bei mir bist als bei ihr. Obwohl ich am Wochenende auf deine Anwesenheit verzichten muss, schon seit fast drei Jahren. Seit viel zu langen Wochen, Monaten, Jahren… Und jetzt auch noch an Weihnachten. Nur einen halben Tag. Danach Wald im Dunkeln...um zu vergessen. Ein Wildschwein vergewaltigen. Oder, was sehr viel wahrscheinlicher ist, das Wildschwein erwischt dich (ich weiß nicht, was besser wäre...) Aber du kannst nicht ewig durch den Wald laufen. Und danach. Nach Hause. Fernsehen. Genau. Zum Glück arbeitest du am ersten Feiertag. Und am zweiten auch, wenn du Glück hast.

Ach, fick doch Weihnachten. Denk lieber an das Geld, das du brauchst, an deinen eigenen Arsch und daran, dass du es nur bekommst, wenn du gut genug lügst, andere verarschst, wenn du opportunistisch und egoistisch genug bist…

…aber es gibt immer einen der besser darin ist als du…

„Du musst mir Geld geben heute?“, gibt sie nicht auf.

Muss ich.

Ich sage immer noch nichts.

Als ob die Scheiße davon weggehen würde, diese ganze Scheiße…

Nein, ich habe kein Geld.

Aber sie gibt nicht auf, kommt an dir vorbei, der du im Bett liegst, sagt im Vorbeigehen: „Ich gehe heute raus… Heute Abend. Mit einer Freundin. Oder sagt sie „einem Freund“?

Du sagst immer noch nichts, das hast du von ihr gelernt. Aber sie kann das besser. Es hilft ja eh nichts. Du hast kein Geld, willst ihr kein Geld geben, hast kein Geld, auch wegen der Scheiß-Scheidung. Für das Geld, für das Anwälte mit dir fünf Minuten vor Gericht sitzen und du noch selber die Witze reißen musst, die die Gegenseite, die verfickte Gegenseite zum Lachen bringen, vielleicht sogar den Richter (ich habe das verdrängt), arbeitest du fünf Monate…

„Wann bin ich denn das letzte Mal rausgegangen?! Seit zwei Jahren nicht mehr…
 Geschweige denn mit einer Freundin. Oder einem Freund.

Es zerreißt dir das Herz, wie sie da sitzt, am Tisch, an eurem alten Esszimmertisch (Nadine hat Glück gehabt, echt, dass sie nicht die alte Scheiße überall hin mitschleppen muss, das weiß ich heute, dass sie von neuem anfangen konnte, sich nur den kleinen, neueren Fernseher samstagsnachts in einer Nacht und Nebelaktion unter den Nagel geschlagen hat…während du arbeiten warst! (Den Laptop wollte sie auch, hat sie aber nicht bekommen, den hast du fürsorglich bei deinen Eltern untergebracht – zum Glück)), über ihre Schulsachen gebeugt, mit ihren frisch getönten Haaren (du liebst sie so sehr, dass du es ihr nicht sagen kannst, nie sagen könntest). Sie ist so schön, jung, so eine tolle Tochter…natürlich braucht sie Geld… Kannst du nicht?

Nein! Ich habe es nicht…

Soll ich ihr das etwa so sagen?!

Will sie das hören?!

Willst du das hören?!

Ist es dann gut?


Haha

„Hast du dir jetzt zwei gemacht?“, fragst du.

„Jaa! Und?“, fährt sie dich an. Richtig sauer (ich weiß, das ist meine Schuld). Nerv nicht! Und du sagst nichts. Nervst nicht. Du kannst sie ja verstehen. Du warst genauso verschwiegen, genauso wütend damals… Aber Verständnis reicht in dieser Welt nicht. Weiß Gott nicht. Und überhaupt. Wer hat das schon? Für andere. Hier musst du…Sie wissen schon…


Noch lange nachdem sie gegangen ist, fühlst du dich wie Scrooge. Fucking Scrooge. Ein Geizkragen, der noch nicht mal drei Tage vor Weihnachten, drei Tage vor diesem verfickten, frohen Fest (hey, eine Alliteration, eine verfickte Alliteration) seiner Tochter Geld geben kann. Ein Geizkragen. So wird sie dich später auch mal behandeln, wenn du alt bist, wird dir kein Geld geben. So wie du jetzt deine Eltern ignorierst, jetzt, wo sie dich vielleicht brauchen würden, jetzt, wo sie alt sind. Den Anruf deines Vaters ignoriert hast…
…weil er dir einen kalten Schauer eingejagt hat.

Weil du wie Knausgard noch immer Angst vor deinem Vater hast…wie er nach Hause kommt…du hörst das Auto unten in der Einfahrt, das Geräusch könntest du heute noch von anderen Autos unterscheiden, 25 Jahre danach! Nie Gewalt, 68er eben (ach, fickt euch doch alle, die verlogenste Generation aller Zeiten), aber trotzdem Gewalt. Oder warum hast du sonst so viel Angst vor ihm…?!

Weil du dazugelernt hast. Weil du genauso verlogen, genauso…
…sein            MUSST!!! Sonst wirst du gefickt!

Der Schmerz, das Leid, das Ignorieren, das Abstrafen zieht sich immer weiter, von einer Generation in die nächste, es wäre schön, wenn es anders wäre…

…IST ES ABER NICHT!!!!!!!!!!!!!!!

In einer anderen Welt, in einer besseren Welt…ach, fick dich doch, du Wassermann, du, du dummer, leichtgläubiger, naiver Wassermann du, warte du liebe ewig auf dein Wassermannzeitalter…


Vielleicht ist es ja der Tod, die Tatsache, dass wir sterben müssen, dass wir alle irgendwann gehen müssen, die dafür verantwortlich ist, dass die Welt so ist, wie sie ist. Aber das will eh keiner hören, die halten sich die Ohren zu, jedes Mal, wenn du das sagst, die schalten auf Durchzug, die machen dich…ohne sich die Ohren zuzuhalten.

Da muss was dran sein, wenn die so reagieren…

Das verstehst du, instinktiv. Aber Verständnis…

Es ist der Tod, die Tatsache, dass…das weißt du…


Sie geht und sagt sogar noch „Tschüss“

„Tschüss“, sagst du wie belämmert.

Du fühlst dich beschissen, denkst Frohe Weihnachten, und dann: Du musst das auch lernen. Wenn die Leute dich nicht nett behandeln, darfst du sie nicht noch dafür belohnen. Das stand doch auch so in diesem Buch, dieses Selbsthilfebuch. Wie man Frauen erobert. Das du dir kurz nach der Trennung geholt hast. Um Frauen zu erobern. Dabei wolltest du nur sie. Sie zurück. Hast ja auch keinen Erfolg gehabt. Zum Glück! Dass du die Leute, die dich Scheiße behandeln nicht belohnen sollst. Nur die, die auch gut zu dir sind (aber wer ist das schon, in diesem Leben, in diesem Land?!)

Aber dann denkst du wieder: Ach, fick doch alle Selbsthilferatgeber! Noch gestern hast du No Country for Old Men geguckt. Mit Chigurgh. Der sagt: Wenn die Regel, nach der du lebst, dich hergeführt hat, was ist diese Regel dann wert? Ach, fickt euch doch alle…



Irgendwann später, viel später, ein ganzes Eminem-Album (Revival, das brandneue Album!) und mindestens zehn „Bad Husbands“ (…and good fathers) später, schreibst du ihr eine SMS: Ich habe überreagiert…ich am Morgen…wie viel brauchst du?

Obwohl du weißt, dass du das Geld eigentlich nicht hast…


Wenn sie jetzt nicht antwortet, dann scheiß doch drauf!


Du guckst immer wieder auf dein Handy, aber da ist nichts… Keine neue Nachricht… Wir sind alles solche verlogenen Manipulateure, alle miteinander, alle für sich…