Wie alles begann: Die Geschichte einer Ehe...

- ein bittersüßer und natürlich rein ficktiver Roman




















Vorwort






Er sucht auf dem Laptop nach der Datei, in der etwas über die erste Nacht steht. Nein, nicht die erste gemeinsame Nacht, sondern die Nacht, in der er sie kennengelernt hat. Damals, an Silvester. Am Ende des Jahres 1995 und zu Beginn des Jahres 1996

War es ein Ende oder ein Anfang?

Er sucht die Datei, weil er das unmöglich noch mal schreiben kann. Es nicht noch mal schreiben will. Weil es noch zu sehr wehtut, ihn viel zu sehr schmerzt. Schon allein bei dem Gedanken an damals spürt er die Tränen in seine Augen steigen; Tränen, die schon lange nicht mehr kommen wollen. Forscher haben herausgefunden, dass Liebeskummer durchaus vergleichbar mit physischen Schmerzen ist. Das ist ungefähr so als würde man sich vebrennen, hat er irgendwo gelesen. Im Internet. Wie immer. Wo denn auch sonst?! Nur dass man sich bei Liebeskummer nicht nur einmal verbrennt, sondern die ganze Zeit über. Und einfach die Hand wegziehen kann man auch nicht.

Er weiß noch ganz genau, wie das damals war. In der Nacht, in der er sie zum ersten Mal getroffen hat. Wie sollte er es auch jemals vergessen. Aber es geht einfach nicht. Er kann einfach nicht darüber schreiben. Zumindest noch nicht. Heute sowieso nicht, wo sie mit unserer Tochter (die das Einzige ist, was uns noch verbindet), in Griechenland ist, und es hier regnet wie Sau. In diesem kalten,regnerischen, traurigen Land. Etwas sträubt sich in ihm. Eine Stimme scheint zu sagen: Was soll das denn auch, jetzt noch über sie zu schreiben, jetzt wo sie weg ist?! Wie ein alter, impotenter Don Juan in der Asche der Vergangenheit zu stochern, während es sie einen Dreck interessiert, ob du lebst oder tot bist. Obwohl, jetzt, wo ich so drüber nachdenke: Das würde sie schon interessieren, wenn er plötzlich, ganz unerwartet ableben würde. Einen Herzinfarkt bekommen würde, von der Brücke springen würde, von einem Auto oder einer Bahn überfahren würde. Das würde ihren Urlaub sicherlich perfekt machen. Dann würde sie bestimmt noch eine Woche dranhängen. Zur Feier des Tages. Endlich frei! Endlich vollkommen frei! Vogelfrei sozusagen. Der Ehemann unter der Erde, mit ihrer Familie vereint, ihre Tochter ganz für sich, endlich nicht mehr nur nach Spanien in Urlaub, endlich mal was anderes, vielleicht sogar schon mit ihrem "Neuen" in Griechenland...

(...nur Unterhalt könnte sie so natürlich nicht einklagen, aber das wäre wahrlich nur ein kleiner Wermutstropfen; vielleicht könnte sie ja das Erbe einklagen, das auf jeden Fall, das wäre ihr, nur ihr...)

Wozu also diese ganze Mühe? Über eine Liebe schreiben, die keine mehr ist? Und was noch schlimmer ist: Die vielleicht nie eine war. Für sie zumindest nicht. Wie hat das Herr Baden noch mal ausgedrückt: Es bringt nichts, immer wieder die Gedanken um die gleichen Dinge kreisen zu lassen, in Endlosschliefen immer wieder das Vergangene aus der Versenkung zu holen. Wofür? Dagegen steht die Aussage deiner Anwältin: Es gab doch bestimmt auch gute Jahre. Ja, bestimmt. Lohnt es sich also doch, von diesen "guten Jahren" zu erzählen? Sie wieder aufleben zu lassen? Und überhaupt: Kann er sie überhaupt noch wertneutral erzählen? Ohne dass der Stachel des Verrats, des Verlassenwerdens, des Schweigens seine Erzählung vergiftet, zerstört? Was ist das schon wert, jetzt noch mal all die Scheiße wieder hochzuholen, im Schlamm zu wühlen wie ein Schwein auf der Suche nach Trüffeln, in der Asche seines Lebens nach etwas zu suchen, das es gar nicht mehr gibt

Aber vielleicht ist es ja genau das, was er jetzt braucht. Einen Neuanfang durch eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Seiner Vergangenheit mit ihr. Wo sie noch eine „Geschichte“ war. Nicht die endlose Zersplitterung der Gegenwart, das endlose Wundenlecken und Leiden, das sein heutiges Leben auszumachen scheint, sondern die Suche nach dem, was da war. Was einmal war. Wie es war. Ohne die der Leser dieses Blogs die Gegenwart gar nicht verstehen kann. Die aber nicht nur ihm, sondern auch unserem Erzähler eine Struktur geben kann. Wenn der Blick in die Zukunft oder Gegenwart noch (immer) keinen Neubeginn offenbart, vielleicht ist das dann ein Zeichen, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen...

Aber heute, heute geht es noch nicht. Ist zu schmerzvoll. Ist es nicht wert. Sie ist es noch nicht wert. Aber wird sie es jemals wieder wert sein. Wohl kaum. Anders als Conchita ist sie diese Aufmerksamkeit gar nicht wert. Und es gibt auch keine Moral der Geschicht, aus der der Leser etwas lernen könnte. Es ist nur eine Geschichte wie viele in diesem Leben. Ohne Lehre, und am Ende auch sinnlos, nichts Neues sagend, nur das Alte wiederholend

Aber da ist irgendwas in dir, in ihm, das ihm sagt, dass das nicht reicht, dass das, was er bisher geschrieben hat nicht gut genug ist, dass er erzählen muss, dass er Ordnung in das Wirrwarr seiner Gedanken, Gefühle und Erinnerungen bringen muss, dass dieses Erzählen ein Trieb ist, den Freud in seinen Abhandlungen übersehen hat, den Erzähltrieb. Dass seine Geschichte einen Sinn hat, auch wenn sie voller Wiederholungen, voller toter Erinnerungen, voller unvollkommener Beschreibungen, voller Gefühle, die keiner braucht, ist. Dass es reicht, dass sie ist


Wenn die Vergangenheit schon tot ist, für immer in den endlosen Weiten dieses kalten, gleichgültigen Universums verschwunden ist, dann muss er sie doch wenigstens angemessen beerdigen. Das ist er ihr schuldig. Das ist er sich schuldig. Er ist schließlich Deutscher und braucht als solcher ein bisschen Ordnung, ein bisschen Ordnung im Chaos seines Lebens

Er muss ihr doch wenigstens einen Grabstein aufstellen, seiner toten Liebe, damit er endlich richtig trauern kann. Ein Grabstein, auf dem steht:

Hier ruht Nadine. Sie war nicht gut zu mir, ich war nicht gut zu ihr, für sie, und jetzt ruht sie hier.

Sie würde schließlich auch auf seinem Grab tanzen und tut dies wahrscheinlich auch schon seit einer geraumen Zeit mit Hilfe ihrer Verwandten (Gott habe ihre Seele gnädig), Dating-Seiten im Internet und vielleicht sogar einem festen Neuen. So kann er, wenigstens virtuell, auch ein bisschen tanzen – wenn er schon im „echten Leben“ zwei linke Füße hat. Also, lasset die Spiele beginnen...







*** 






I
Frohes neues Jahr!







Er hat etwas gefunden. Wer suchet, der findet. Es ist zwar nur ein Bruchstück, aber das macht nichts. Das ist das Leben auch. Wie sagt das T.S. Eliot in The Waste Land noch mal? Er googelt es: These fragments I've shored against my ruins... Mit diesen Fragmenten habe ich meine Ruinen abgestützt. Bruchstücke sind manchmal eben besser als nichts. Besser als das Nichts. Also, hier, bitteschön, das, was er vor der Sintflut retten konnte:

Das Unheil oder Unglück nahm seinen Lauf, als Siegmund, der gute Bekannte meiner Eltern und Frühschoppen-Partner meines Vaters entschied, dass ich mich irgendwann mal von meinen Eltern abnabeln müsste und dass ich mit meinen fast schon 19 Jahre schon viel zu alt war, um am Silvesterabend noch bei Mama am Rockzipfel zu hängen. Kurzum: Er gab mir 20 D-Mark und sagte so etwas wie: „Der Junge muss an Silvester raus!" Und dann zu mir: "Du kannst doch nicht an Silvester zu Hause bleiben?!“ Was für eine Ironie! Denn diese 20 DM (10 Euro für die Jüngeren unter Ihnen) werden bald – wenn sie die Scheidung einreicht – zu den teuersten 20 DM meines Lebens werden. Sehen Sie! Im Leben kriegt man nix geschenkt! Auch 20 DM können einem teuer zu stehen bekommen.

Gezwungenermaßen also – der Rockzipfel meiner Mutter übte nämlich nach wie vor eine große (passiv-)aggressive Macht auf mich aus – stieg ich in die Bahn und irrte plan- und ziellos durch die Stadt. Denn ich kannte damals nur eine Disko. Die sogenannte Biskuithalle, die mich quasi – zumindest was Diskos angeht – entjungfert hat. Aber die hatten irgendein komisches Buffet und das kostete mehr als 20 DM. Oder die ließen mich nicht rein. Oder ich hatte keinen Bock zu warten (immer diese Ungeduld: Die zieht sich durch dein ganzes Leben!). Auf jeden Fall ging ich nicht in die Biskuithalle, sondern fuhr wieder in die Stadt zurück. Aber nach Hause konnte ich auch nicht (wie peinlich wäre das denn gewesen, denn Siegmund blieb immer lange!). Also ging ich – keine Ahnung von welchen dunklen Mächten getrieben – an der Passage am Hauptbahnhof vorbei und sah durch Zufall oder Einfluss ebendieser dunklen Mächte, den Eingang des Ysabeaus, einer Latino-Disko! Ich kannte das Ysabeau nicht, aber irgendwie zog es mich an. Vielleicht hatte ich es auch auf einem der damals noch recht häufigen Sonntagsspaziergängen mit meinen Eltern gesehen. Ich weiß es nicht.

Oder es war einfach Schicksal (um Gottes willen!). Irgendeine dunkle Macht wollte, dass ich sie treffe…

Ich will mir das gar nicht vorstellen, welche Macht das gewollt haben könnte (...aber ich hatte ja auch gute Zeiten mit mir). Vielleicht wollte ja auch irgendetwas zwischen Himmel und Erde, dass meine Tochter María geboren wird.

Oder es war doch einfach nur einer dieser dummen Zufälle.

Keine Ahnung.

Aber auf jeden Fall trat ich durch die weit geöffnete, weiße Tür und ging den langen, mit rotem Samt ausgekleideten Gang hinunter (fast als würde ich in die Gebärmutter zurückkehren), wurde reingelassen (ich war gerade erst 18) und befand mich in einer Latino-Disko. Geil, ne?! Ohne jegliche Ahnung von Musik und Leuten zu haben. Und von Tuten und Blasen sowieso nicht (ich war damals noch eingefleischte Jungfrau, mit fast neunzehn, aber das sollte sich schon bald ändern...). Aber ich war zumindest in einer richtigen Disko. Ich hatte also die mir von Siegmund aufgetragene Mission in die Tat umgesetzt. So einfach war das. Er konnte stolz auf mich sein. Und ich war es auch, ein bisschen. Ich war drinnen! In einer Disko! Obwohl mich das alles ziemlich überforderte, fühlte ich mich gar nicht so schlecht. Vor allen Dingen, da ich ganz alleine war (ja, ich hatte tatsächlich keine Freunde, die Silvester mit mir verbracht hätten Sie haben es ja ohnehin schon geahnt,also warum versuchen, es weiter zu verheimlich...?).

Das mit den Freunden sagte ich ihr natürlich nicht, erzählte ihr stattdessen irgendwelche Lügen…








Und wie er so weiter sucht, findet er, in den Trümmern seines Lebens, seiner Ehe, auf seinem Laptop tatsächlich eine weitere Version dieser Nacht... Hier ist sie:
 


„Frohes neues Jahr!“ Sie stößt mit dem Sekt an. Dem Gratis-Sekt, den die zu Neujahr jedem Gast geben. Ein Glas für jeden. Ich sehe sie nicht richtig. Es ist voll dunkel hier. Auf einmal ist sie da. Eigentlich war ich die andere am Beobachten, aber jetzt ist sie da, steht auf einmal an meiner Seite, wie aus dem Nichts. Und ich bin nicht mehr allein.

Aber Halt. Das alles fing viel früher an. Mit 20 Mark. Damals waren es noch Mark. Ich war wie immer allein, hatte niemanden mit dem ich rausgehen konnte, hatte auch irgendwie keinen Bock, ich weiß nicht. Wenn ich jemanden gehabt hätte vielleicht, aber so.

Es war Silvester und meine Eltern hatten Siegmund eingeladen. Er saß unten und redete mit meinem Vater. Der rauchte immer Roth-Händle und sah aus wie ein alter Indianer, sein Gesicht irgendwie grau

Auf jeden Fall saß er da und redete mit meinem Vater. Am Esszimmertisch. Im Wintergarten. Und ich kam runter. Aus meinem Zimmer. 

Fehler Nr. 1! 

Er fragte mich irgendwas, ob ich heute nicht rausgehen wollte, wo doch jeder draußen war. Mir war das ein bisschen peinlich, aber irgendwie auch egal.

„Das muss doch nicht sein!“, oder irgend so was sagte er. Und gab mir 20 DM. Ziemlich viel Geld für damals.

„Hier, geh ein bisschen raus…“










Ich stand also da, fast noch im Gang, den ich eben erst runtergekommen war, neben der Garderobe. Wie bestellt und nicht abgeholt (würde deine Mutter sagen). Ich stand da und guckte verstohlen auf die Tanzfläche runter. Ich hatte noch nicht mal was zu trinken, noch nicht mal ein Glas oder eine Flasche in der Hand, an der ich mich hätte festhalten könnte. Die mir etwas zu tun gegeben hätte. Etwas anderes als verstohlen auf die Tanzfläche herunter zu starren. Und ich war jung – ich war damals noch nicht mal 19 –, viel jünger als die meisten Leute um mich herum (keine Ahnung, warum die mich überhaupt reingelassen haben, ich hatte sogar Turnschuhe an, denn andere Schuhe hatte ich damals gar nicht). Die Musik war auch nicht meine, aber das war mit egal. Ich konnte ja wohl auch kaum erwarten, dass die Hardcore-Gangster-Rap spielten. Den legten die ja noch nicht mal in der Biskuithalle auf, wo ich vorher gewesen war. Hauptsache, ich war hier. In einer richtigen Disko! Für Erwachsene! Von meinem erhöhten Stehplatz direkt unterhalb der Treppe, die nach unten führte (direkt in das innere Sanktum dieser Ersatz-Gebärmutter) hatte ich zudem eine ziemlich gute Sicht auf die Tanzfläche, die heute, an Silvester, natürlich ziemlich voll war. Es war bestimmt schon kurz vor zwölf, das neue Jahr würde in kurzem beginnen, 1996. Obwohl ich das natürlich nicht genau wissen konnte, denn damals gab es noch keine Handys und ich war noch nie ein Freund von Armbanduhren gewesen – die hinterließen immer so hässliche, rote Abdrücke auf der Haut... Und als ich so verstohlen und auch ziemlich verlegen (das war nicht nur musikalisch eine totale Überforderung für mich) auf die Tanzfläche runterguckte, merkte ich plötzlich, dass ein Mädchen, eine Frau mich anguckte. Zu mir hochguckte. Nicht immer, nicht die ganze Zeit, klar, aber immer wieder. In regelmäßigen Abständen sozusagen. Nicht immer, aber immer öfter. Ich konnte sie nicht genau sehen, in der rauchigen Dunkelheit der Disko, aber dass sie mich anguckte, das wusste ich. Instinktiv. So viel Erfahrung, wie ich schon in der Schule mit Blickkontakten zu Mädchen und Frauen gesammelt hatte. In nichts anderem hatte ich Erfahrung gesammelt, aber darin schon. Mehr als genug! Wie sollte Conchita das Jahre später in Schottland ausdrücken: "Das einzig Gute an dir sind deine Augen!" (Danke, Conchita, für dieses so herrlich passiv-aggressive Kompliment!). So ging es weiter: Immer wieder guckte sie zu mir hoch. Die war glaub ich eine Südamerikanerin. So, wie die aussah.

Mit Südamerikanerinnen kannte ich mich seit Ana in der 8./9. Klasse ein bisschen aus – oh, wie kreuzten sich doch unsere lustvollen Blicke, fielen immer wieder aufeinander, bis am Ende…

...gar nichts passierte (sie ging weg aus Bonn weg oder von der Schule ab und ich sah sie nie wieder, zog sie nie wieder mit meinen gierigen, sehnsüchtigen Blicken eines 15-Jährigen an und aus). Und auch schon vorher, auf dem Geburtstag von José (der Spanier war), im McDonald’s, hatte ich versucht, diese Chilenin, keine Ahnung, wie die hieß, zu küssen. Ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken (aber sie hatte sich standhaft gewehrt und am Ende wurde doch nichts daraus, zumindest nichts „Richtiges“). Keine Ahnung, was mich da geritten hatte, denn ich war bestimmt noch nicht mal dreizehn.

Aber zurück in die Disko, nur ein paar Minuten, vielleicht sogar nur ein paar Sekunden von 1996 entfernt: Da war es wieder! Die guckte echt zu mir rüber! Und als Südamerikanerin passte sie natürlich auch genau in mein Beuteschema: Ausländerin (das durfte man damals noch sagen!), von kleiner Statur, braune Haut, braune bis schwarze Haare, vorzugsweise aus dem spanischsprachigen Bereich, dicke Titten… (nein, der letzte Punkt war natürlich nur ein Witz, so dich waren die bei ihr nicht, wie ich später feststellen sollte!). Da ist man(n) echt machtlos, wenn die genau in das Beuteschema fallen…da müssen Sie nur Boris Becker fragen. Aber sie guckte ja auch immer und immer wieder zu mir hoch und ich wurde langsam, ganz langsam, warm in der Disko. Mir wurde warm. Ums Herz. Ich geriet ins Schwitzen (ach, Sie wissen schon, was ich meine...). Ich stand zwar immer noch ziemlich stocksteif da (als ob man mir einen Stock in den Arsch gerammt hätte…) und das Einzige, was an mir nicht steif war, war noch immer mein Penis, aber das war doch schon mal was! Die 20 D-Mark von Siegmund (Freud) hatten sich wahrhaftig jetzt schon gelohnt! Und das Beste war: Ich hatte sogar, nachdem ich den Eintritt bezahlt hatte, noch 10 Euro übrig! Besser als diese Scheiß-Biskuithalle am Arsch der Welt und voller Ghetto-Kids. Aus Bonn-Tannenbusch und Dransdorf und wer weiß woher sonst noch. Ich hatte Blickkontakt aufgenommen. Blickkontakt zum Feind. Darin war ich eh Weltmeister. Im Blickkontakt-Aufnehmen.

Die sah ein bisschen so aus wie diese Indonesierin, die aus seiner Stufe, bei der er verzweifelt versucht hatte zu „landen“. „Anzudocken“. „Beam me up, Franca“ (so hieß die, die Indonesierin)! Die er sogar angerufen hatte (was ihm schon eine massive, fast schon unmenschliche Überwindung abverlangt hatte). Von Zuhause, vom Telefon seiner Eltern (Handys gab es ja – wie gesagt – noch nicht). Die aber nicht – wie von ihm in seiner unendlichen Naivität, in seiner unendlichen Unschuld vorgeschlagen – mit ihm ins Kino gehen wollte…oder konnte (Indonesien ist immerhin ein muslimisches Land). Oder was auch immer. Vielleicht wollte oder konnte sie auch deswegen nicht…weil sie immer noch oder schon einen Freund hatte, wie sie irgendwann einmal erwähnte. Vielleicht war es ja gar nicht deine Schuld! Denn sie hatte ja einen Freund! In Venezuela! Der Vater war nämlich indonesischer Botschafts-Angestellter oder vielleicht sogar Botschafter selbst (sie hatte ihn sogar mal zu einer Feier mitgenommen!). Und bevor er nach Bonn, das damals noch Hauptstadt war, gekommen war, hatte es ihn und seine Familie nach Venezuela verschlagen. Und da hatte sie dann auch diesen…diesen…Schmock kennengelernt. Diesen venezolanischen Spacken (möge er in der Hölle schmoren!). Mit dem sie irgend so eine Fernbeziehung führte. Oder irgend so was in der Art. Oder er war ihre Ausrede, um nicht sagen zu müssen, dass sie gar keinen „richtigen“ Freund hatte. So wie Pilar seine Ausrede war, um nicht zugeben zu müssen, dass er noch keine „richtige“ Freundin gehabt hatte. Sondern nur einen „Urlaubsflirt“. Der zwar im Jahr darauf wiedergekommen war, aber trotzdem nicht als „echte“ Freundin gewertet werden konnte (du hast die noch nicht mal richtig geküsst, das weißt du ganz genau…). Zumindest nicht laut Luise, seiner…ach, keine Ahnung, was die für eine Verwandte war…eine Groß-Tante oder…keine Ahnung. Die Cousine seiner Mutter (Gott habe sie selig!). Dein Vater sprach schon ganz stolz von Freundin…
…und diese Tante, diese blöde Kuh, diese…machte alles kaputt, indem sie vor versammelter Verwandtenmannschaft sagte: „Das ist ja noch keine Freundin. Sondern nur ein Urlaubsflirt. Boah! Vielen Dank! Danke, dass du das klargestellt hast, du Tante, du! Oder was du auch immer bist… Danke, dass du meinem Vater und mir die Illusion genommen hast, dass auch sein Sohn einmal eine Freundin hat, sei es auch nur auf den Kanarischen Inseln. Das können die Deutschen perfekt, darin sind sie echt Weltmeister: einem die Illusionen nehmen!

Aber so weit sind wir noch nicht, waren wir noch nicht. Damals.

Damals hatte ich noch Illusionen. Obwohl ich schon damals ziemlich unter meiner „Jungfräulichkeit“ (warum gibt es das eigentlich nur in der weiblichen Version??) gelitten habe. Darunter, dass ich…

noch.immer.keine.“richtige“.Freundin. hatte

noch.immer.nicht

immer.noch.nicht

Mit 18, schon fast 19…

noch.nicht

Obwohl ich ja Blickkontakt genug hatte. Die Frauen mochten meine Augen, mich aber nicht! Mit den Augen hatte ich sie alle gehabt, hatte sie an- und dann ausgezogen, hatte mit ihnen allen geschlafen…

…aber eben nur mit den Augen!

Und nicht in echt. In Natura. Denn da hatte ich tierisch, wirklich tierisch, Angst davor, auch nur mit ihnen zu sprechen, geschweige denn sie anzusprechen. Sie anzuquatschen, wie man das so locker sagt, aber ich war in ihrer Gegenwart alles andere als locker. Und da die deutschen Mädchen – oder noch schlimmer – die in Deutschland aufgewachsenen, ausländischen Mädchen sich lieber den kleinen Finger abhacken würden als jemals einen Jungen oder Mann anzuquatschen war ich immer noch „Jungfrau“. Bestimmt lag es auch ein bisschen an mir. Ich machte es ihnen auch nicht gerade einfach, mit meinem sich wild abwechselnden Image als totaler Außenseiter, der entweder den Mund nicht aufkriegte oder mit Gangster-Rap-Klamotten (Raiders-Jacke, Sox-Käppi – das sah so geil nach „Sex“ aus – und im Sommer ein Shaquille-O’Neal-Trikot, original aus den Staaten!) rumlief und sich die Hosen anmalte. Ich machte es ihnen weiß Gott nicht leicht! Aber trotzdem. Aus welchem Grund auch immer: Ich war immer noch „Jungfrau“ (wie entmannend dieses Wort doch für einen 15-17-Jährigen ist!). Hatte noch keine „richtige“ Freundin (das mit Pilar und ihrem Status als bloßen Urlaubsflirt hatten wir ja bereits geklärt!). War kein „richtiger“ „Mann“, wertlos in den Augen meines Vaters. Für den war ich sowieso schon durch mein ganzes „Theater“ mit meiner Mutter stark in meinem Wert gemindert, wenn nicht sogar entwertet. So dass sich die Frage stellte: Kann so jemand überhaupt jemals glücklich werden? Oder zumindest ein paar weit gestreute Augenblicke des Glücks für sich erhaschen? Oder ist er von Anfang an schon gefickt?!

Oder eben nicht, haha! Oder eben genau das nicht! Gefickt, meine ich!

Wer weiß das schon. Es ist müßig jetzt, gefühlte tausend Jahre später, noch darüber nachzudenken, in alten Wunden herumzuwühlen, bis sie wieder wehtun. Aber eins ist sicher: Selbstvertrauen gibt so was garantiert nicht! Dieser Druck, endlich eine Freundin zu finden, dem ich selbst hier, in der Disko am Silvesterabend 2015, kurz vor 2016, nicht entkommen konnte.

Oder doch?!

Die guckte nämlich immer noch, immer wieder… Und so schlecht sah die gar nicht aus.

(im Dunkeln)










Sogar sie war am Schwitzen, was – wie ich später feststellen sollte – äußerst selten war. Wir tanzten den ganzen Tag. Ich ungelenk und sie lateinamerikanisch geschmeidig. Wie eine Katze, ein weiblicher Panther, eine Panther-Dame. Smooth, baby. Wie immer. Ich erinnere mich noch daran, dass, als ich mit ihr in Schottland einmal in diese Latino-Disko gegangen war, eine schottische Freundin, die auch Spanisch studierte, mir sagte, dass meine Freundin/Frau richtig gut tanzte. Danke. Aber selbst wenn ich mich an diesem Abend als Tanzbär outete, fiel es ihr nicht auf oder sie sagte nichts. Mir war es auch egal, an diesem Abend, obwohl ich auf diese Musik noch nie getanzt hatte. Wie auf fast alle anderen Musikarten. Aber das war in dieser Nacht egal. Immer wieder zog es uns auf die Tanzfläche. Sie tanzte nur mit mir die ganze Nacht. Bis mindestens drei, vier Uhr. Ich gab ihr einen Drink von Siegmunds 20 DM aus, aber auch sie kaufte mir einen Drink. Ich weiß noch, wie heiß sie aussah, als sie vom Tanzen an unseren Tisch zurückkehrte. Wir unterhielten uns über meine Schule, über Ecuador, über alles. Auf Spanisch! Ich glaub, dass ich selbst damals schon anfing, Spanisch mit ihr zu reden, obwohl ich das trotz Leistungskurs Spanisch kaum konnte. Aber das merkte ich, merkten wir an diesem Abend überhaupt nicht. Das war egal. Auch über was wir redeten war bis zu einem gewissen Grad egal. Wir redeten einfach immer weiter, so als kannten wir uns schon seit Jahren und hätten uns gerade erst wieder getroffen.  Ich kannte das gar nicht, denn mit den Mädchen auf meiner Schule gab es immer wieder diese unbequemen, unangenehmen Pausen – wenn sie überhaupt mit mir redeten.

Immer weiter

(Heute frage ich mich, wie viel davon echt war, aber ich glaube immer noch, dass es ziemlich viel war. Damals bestimmt noch.)

Irgendwann am Abend war ich trotz Jungfräulichkeit schon so vertraut mit ihr, dass ich sogar während wir tanzten versuchte, sie auf die Backe (ja ich weiß, die Wange) zu küssen. Geküsst habe ich sie zwar am Ende nicht, aber ihre Backe (ach, leckt mich doch!) habe ich berührt. Mit meinem  Gesicht. Meinem Mund

(Ging das damals schon zu schnell? Hätte ich hellhörig werden sollen? Als 18-jährige Jungfrau, gerade aus dem Nest gefallen, beziehungsweise temporär aus dem Nest meiner Mutter entlassen? Hatte ich überhaupt eine Chance?)

Aber es war so schön, ich fühlte mich so gut, endlich einmal jemand, eine Frau, die mich mochte, die sich nicht in langen Gesprächspausen erging, die mit mir tanzte, die mich attraktiv fand, die an mir interessiert war, nach jahrelangem Warten, jahrelangen verstohlenen Blicken im Klassenraum, die nie zu was geführt hatten, endlich mal eine Frau, eine richtige Frau, die an mir interessiert war. Ich hatte keine Chance…also nutzte ich sie…

Berührte ihre vom Tanzen ganz warme Wange (nur wegen der Alliteration), berührte sie , wollte sie schon jetzt in die Arme nehmen, fühlte mich auf eine animalische, instinktive Weise von ihr angezogen, ihre Wange ganz heiß. Und sie zog sie nicht zurück, lachte nur, wie sie immer gelacht hat (wie sie am Ende nicht mehr lachte), fragte nicht wie Patricia, was denn mit den Mädchen in meiner Schule sei („die sind arrogant, arrogant, arrogantes), sondern ließ es einfach geschehen, ließ das Leben seinen Lauf nehmen, die Nacht, ließ mich sie berühren, dachte nicht darüber nach

und ich war Feuer und Flamme

wie sollte es auch anders sein

(Ich hatte wohl kaum die Reife, mich selbst zu bremsen; und selbst wenn, dann hätte ich es wahrscheinlich nicht getan, nicht an diesem Abend, nicht in dieser Nacht.)

Diese Nacht, die irgendwann dann (leider) doch endete, enden musste (obwohl ich nicht wollte).

Ich weiß noch, dass wir, als wir die Disko am frühen Morgen verließen, sogar alle drei, mit verschränkten Armen liefen. Nadine links, ich in der Mitte und ihre Schwester Slainté (die mich noch vor Nadine ins Auge gefasst hatte) rechts. Wir lachten, als sie mich zum Bus oder ich sie (?) in Richtung Altstadt begleitete. Nur ihre ältere Schwester Mandy (wo nur diese lateinamerikanischen Namen alle herkommen – wahrscheinlich aus irgendwelchen Telenovelas) hielt sich damals schon zurück, hielt sich im Hintergrund. Oder war sie es, die rechts ging? Und Slainté, die sich aufgrund der anfänglichen Augenblicke mit mir zurückhielt?

Ich weiß es nicht mehr. Es ist weg. Für immer in Zeit und Raum verschwunden.Von dem schwarzen Loch verschluckt, in dem sich mein Leben im Moment befindet. Das mein Leben im Moment durchläuft.

Wie sie, für immer weg

Kein Wort mehr












2

Robacunas und erste Dates







Sie hatte mir ihre Telefonnummer gegeben, also rief ich sie am nächsten Tag an. Das muss so gegen Mittag gewesen sein, weil ich ja erst um drei oder vier Uhr nachts nach Hause gekommen war. Und dann noch mit meinen Eltern geredet hatte. Die komischerweise auch noch auf gewesen waren.

„Ich hab jemand kennengelernt…in der Disko…ein Mädchen.“

Ich war so stolz, ihnen und besonders meinem Vater das endlich sagen zu können (damit er endlich auch mal auf mich stolz sein konnte), dass ich ihnen das gleich erzählte. Obwohl mein Vater wahrscheinlich noch halb am Schlafen war, denn es war bestimmt nicht er gewesen, der aufgeblieben war, sondern meine Mutter. Vielleich hat sie ich auch wachgehalten, keine Ahnung. Auf jeden Fall weiß ich noch, dass sie sogar noch aufstand, um meinen Jacke auf dem Balkon aufzuhängen (ich glaube, das war noch oder schon (je nachdem, wie man’s nimmt) meine alte Lakers-Jacke, die ich mir damals gekauft hatte. Ich glaube nicht mehr die Raiders-Jacke, die ich hatte und die damals total in war, sondern die von den Lakers. Und weil sie nach der Disko ganz stark nach Rauch roch hängte sie meine Mutter gleich auf den Balkon.

„Dann riecht die morgen wieder ganz frisch, das wirst du sehen, das reicht schon, die draußen aufzuhängen. Das genügt.“

Am nächsten Tag, dem 1. Januar 1996, der eigentlich schon begonnen hatte, rief ich sie an. So gegen Mittag, denn ich war ja erst gegen drei, vier Uhr nach Hause gekommen. Ich glaube, wir hatten uns schon gestern in der Disko so halb verabredet, aber trotzdem war ich aufgeregt: Würde sie auch heute noch was mit mir machen wollen? Ich nahm das Handset mit nach oben, ging in mein Zimmer, verschloss die Türe hinter mir und wählte ihre Nummer. Sogar relativ schnell nachdem ich die Tür zugemacht hatte. Ich war zwar trotzdem noch nervös – das würde mein erstes Date oder wie man damals noch mehr sagte, meine erste Verabredung sein –, aber immerhin hatte sie die ganze Nacht mit mir getanzt und geredet. Es waren auch keine dieser unangenehmen Pausen entstanden, wie sonst immer, wenn ich mit einem Mädchen redete. Nach dem dritten oder vierten Klingeln ging sie dran und wir verabredeten uns für drei am Stadthaus (sie wohnte in der Altstadt).




„Um drei Uhr, ok.“

„Ok. Gut.“

„Ciao. Bis dann.“

„Ciao:“

Wir verabredeten uns für drei Uhr und ich war selbst überrascht, wie leicht das ging. Wie schnell. Nicht so wie damals, bei Franca, dieser Indonesierin auf unserer Schule. Die ich auch angerufen hatte, die aber nein gesagt hatte. Was so mit die schlimmste Strafe war, in meinem Alter. Aber Nadine hatte nicht nein gesagt.


Ich wollte mit ihr ins Kino gehen. Oder wollte sie mit mir ins Kino gehen? Keine Ahnung, in das Metropol



***




Also traf ich sie um drei. An der Haltestelle am Stadthaus (glaub ich zumindest). Sie stand schon da, als ich mit der Bahn ankam… Nein: Ich wartete und dann kam sie. Ich weiß es nicht mehr, ehrlich gesagt, aber beides tut gleich stark weh in der Erinnerung, jetzt, wo sie weg ist, für immer weg ist. Doch, ich glaube so war es: Ich stand schon da (wie immer überpünktlich) und sah sie kommen. Aus der Altstadt. Von dieser großen Kreuzung vor dem Stadthaus, die direkt hineinführt ins Herz der Altstadt. Genau: So war’s. Ich sah sie kommen. Eine kleine Frau, schön. Ich war 18, sie 23. Am Tag sah sie anders aus als gestern in der Disko. Wir begrüßten uns gingen zusammen zum Kino. Ins Metropol, das es – wie gesagt – heute gar nicht mehr gibt. Wir gingen zur Kasse, das war damals noch so ein richtiges Kassenhäuschen, in dem Kino, nicht so eine moderne Kasse wie heute. Wir guckten uns die Filme an, die liefen. Ich habe keine Ahnung, was damals, am 1.1.1996 so im Kino lief und warum wir ausgerechnet in den James-Bond-Film gingen. Aus dem Alter war ich eigentlich schon ein bisschen raus, obwohl ich damals jeden James-Bond-Film gesehen hatte und obwohl sogar unser Abi-Motto ein paar Monate später sich auf diesen Film, der mein Leben verändern sollte, bezog. Auf jeden Fall war sie mit James Bond einverstanden und da wir noch ein wenig Zeit hatten, bis der Film anfing, gingen wir noch ins kinoeigene Café, das sich in der ersten Etage befand. Tranken keine Ahnung was. Redeten…über unser Alter.

„Wie alt bist du?“ fragte sie.

(oder hatte sie das schon am Tag davor gefragt? Auf jeden Fall hätte sie es sich auch denken können, da ich noch Schüler war; denn mit der Ausnahme von meinem „Freund“ Mario waren die normalerweise noch nicht über 20, selbst der Abitur-Jahrgang nicht)

Oder ich fragte sie: „Und du?“

Und sie sagte leicht kokett, leicht verschleiernd: „Was denkst du denn, wie alt ich bin?“

So jetzt bei Tageslicht sah ich schon, dass sie schon älter als ich sein musste, tippte also auf 25.

„24“, sagte sie. „Tengo veinticuatro años…“ Sie guckte mich damals schon an, so als wollte sie fragen: Ist das ok so? Für dich? Aber das tat sie natürlich nicht. Schon damals, auf unserem ersten Date, spürte ich eine Distanz zwischen uns. Und gleichzeitig eine unglaubliche Nähe; fast so, als hätten wir uns schon vorher gekannt. Auf jeden Fall waren wir da, im Café, nicht mehr so locker und nah beinander wie in der Nacht zuvor in der Disko. Zumindest noch nicht, was sich aber schon bald ändern sollte.

Nachts sind alle Katzen grau…

Ich weiß nicht mehr, über was wir sonst noch redeten, aber viel kann es nicht gewesen sein. Oder zumindest nicht so wichtig, dass es die Zeit überlebt hätte. Die Zeit, die bleibt… Aber bestimmt haben wir uns auch nicht angeschwiegen. Soviel ist sicher. Das konnte ich mit ihr noch nie. Bei uns flossen die Worte von Anfang an nur so, wir konnten stundenlang über Gott und die Welt reden…oder eben über nichts. (Das ist bestimmt auch einer der Gründe, warum mir ihr späteres Schweigen, ihr silent treatment so weh tat. Ihr heutiges Schweigen sowieso…)

Am Ende gingen wir ins Kino und setzten uns auf unsere Plätze, die, wenn ich mich recht erinnere, ziemlich weit hinten in der Nähe der Eingänge waren. Ich weiß gar nicht, ob hinter uns überhaupt noch eine andere Reihe war. Wenn ja, dann hatten die an diesem Nachmittag wahrhaftig ihren Spaß. Denn das, was in Kürze beginnen sollte, war wahrhaft „großes Kino“ – und damit meine ich nicht den Film. Das Metropol war – wie schon erwähnt – noch eins dieser alten Kinos. Mit ordentlich viel Plüsch auf den Sitzen und an den Wänden, was aber komischerweise das Sitzen immer ein bisschen erschwerte, zumindest in meiner Erinnerung. Ein weiteres „Kinoproblem“ von dem ich an diesem Nachmittag, dem ersten im neuen Jahr, nichts mitbekommen sollte. Nadine trug damals glaub ich schwarz. Ich glaube sogar, dass sie ihre schwarze Lederhose trug. Oder eine Strumpfhose (nie werde ich ihre Beine in dieser schwarzen Strumpfhose an Marías ersten Geburtstag vergessen – ich habe sie einfach nur aufs Bett geschmissen und gefickt, ohne große Worte), aber ich glaube, dafür war es zu kalt. Denn das war ja im Januar, wie gesagt, am ersten Januar des Jahres. Heute muss ich bei dem Gedanken daran fast heulen, wie ich so auf der Arbeit vor meinem Laptop sitze. Und ich? Was trug ich? Keine Ahnung. Auf jeden Fall meine dicke schwarze Lakers-Jacke. College- oder Sportjacken im Allgemeinen waren damals in und ich hatte eine der L.A. Lakers, da ich Basketball mochte, und spielte und in meinem Zimmer sogar ein großes Poster  von Magic Johnson hängen hatte, der da schon AIDS hatte (weil er immer die Cheerleader nach den Spielen beglückt hat). Eine Lakers-Jacke, einen sportlichen Pullover und eine Jeans. Nichts Besonderes. Fürs erste richtige Date, wenn man mal von Anikó in Ungarn (mein erster Kuss – was für ein Geschlabber, ekelhaft!) und Patricia auf Gran Canaria (meine erste Begegnung mit den Eltern und die erste Frau, das erste Mädchen, das „zurückkam“ (nämlich fast genau ein Jahr später, in unserem nächsten Urlaub auf der Insel des ewigen Frühlings) und mich sogar ihren Eltern vorstellte, obwohl es noch nicht mal zu einem Kuss zwischen uns kam, dort oben auf der Düne der Playa el inglés auf Gran Canaria (die hatte auch Beine, da erinnere ich mich noch heute dran). Ne, wenn ich heute so drüber nachdenke war ich echt ein bisschen underdressed (ich war schon immer eine allzu einfache Seele, für die das Äußere keine so große Bedeutung hatte wie für andere). Aber zumindest war ich „cool“, echt jugendlich angezogen und das musste doch auch Eindruck machen auf eine 24-jährige Latina aus Ecuador. Darüber haben wir im Nachhinein Garrucha. Wenn ich sie auf Spanisch robacunas, eine „Nesträuberin“, wenn es den Begriff überhaupt so in Deutschland gibt, eine (ältere) Frau, die einen jüngeren Mann oder Jungen aus dem sicheren Nest seiner Mutter raubt, um ihn (und sich) glücklich zu machen. Ihn 19 Jahre für sich zu behalten und sich dann von ihm zu trennen und ihm für immer das Herz zu brechen. Eine robacunas eben. Eine richtige robacunas! Das war sie…

Wo die Liebe hinfällt…, haben meine Eltern und besonders meine Mutter immer dazu gesagt…


Jede Zeile tut weh, aber es muss weitergehen. Irgendwie. Show must go on…inside my heart is breaking… Es muss weitergehen. Immer weiter. Imma wigga! Also, dann hau rein: Wie ging es denn nun weiter, an diesem ersten Sonntag-Nachmittag im neuen Jahr? An diesem ersten Tag unserer Beziehung. Komm, quäl dich weiter! Erinnere dich weiter!

Wir setzen uns hin, die Werbung fing an, das Kino wurde dunkel und wir saßen ziemlich weit hinten, fast schon am Aus-, Eingang. Ich spürte sie neben mir, spürte ihren Körper neben mir. Damals (das lässt mich zwar jetzt so alt klingen, aber es ist nun mal damals) gingen die noch rum in den Kinos, verkauften Eiskonfekt und allen möglichen anderen Scheiß. Das war eigentlich ganz schön, aber ich weiß nicht, ob ich etwas gekauft habe, damals. Vielleicht schon. Vielleicht Eiskonfekt. Wie das Eis auf ihren Lippen zerfloss...





Vielleicht war das ja der Auslöser. Der Trigger. Für das, was folgen sollte. Keine Ahnung, was mich da geritten hat, aber vom Film, von James Bond, hab ich an diesem Tag echt nicht viel gesehen. Ich glaube, dass war Golden Eye damals. Keine Ahnung, wie immer. Wenn „keine Ahnung“ zur Lebensphilosophie wird. Obwohl, Aristoteles ist wahrscheinlich auch nicht viel komplizierter: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Bei mir müsste das leicht verändert heißen: „Ich weiß, dass ich keine Ahnung habe!“ Kling cool, aber zum Aristoteles werde ich dadurch wahrscheinlich trotzdem nicht. Aber egal: Dem Film hatten wir auch unser Abi-Motto entnommen, als wir in diesem Jahr ein paar Monate später Abi machten. So eine Tragweite hatte der damals. Und für dich persönlich hatte er noch eine viel größere Tragweite. Auf jeden Fall hatte der Film kaum angefangen, als ich – wie gesagt, keine Ahnung, was mich da geritten hat – mich auf sie stürzte. Das heißt natürlich nicht vollständig: Ich blieb schon noch Jungfrau. Denn Sex im vollen Kino, das wär schon ein bisschen viel verlangt gewesen. Aber auf einmal, aus irgendeinem Impuls heraus, aus irgendeinem Lebens- oder Todestrieb heraus, beugte ich mich zu ihr rüber und küsste sie. Auf den Mund. Ohne Vorwarnung. Wie aus dem Nichts. Wie aus dem Nichts küsste ich sie. Und hörte bis auf gelegentliches Luftschnappen (ich wollte ja nicht ersticken!) nicht auf, bis der Film zu Ende war. Umarmte und küsste sie. Ich weiß nicht warum. Vielleicht war das ja noch dem Schlafentzug aus der Nacht davor geschuldet. Oder es lag an dem tentativen Kuss, den ich ihr ebenfalls in der Nacht zuvor auf der Tanzfläche auf die Wange gedrückt hatte. Auf ihre warme, vom vielen Tanzen fast heiße, und vom Schweiß sogar ein bisschen feuchte Wange. Das war eines der wenigen Male, wo ich sie wirklich schwitzen gesehen habe. Sie war ganz heiß und feucht an diesem Abend. 

Am Anfang war sie natürlich überrascht, als ich sie auf einmal, noch bevor der Film angefangen hatte, auf den Mund küsste. Aber auch sie ließ diesen Kuss, unseren ersten, allerersten richtigen Kuss geschehen. Wehrte sich nicht. Ließ ihm sogar noch einen zweiten, dritten, vierten folgen...

(vielleicht hatten wir ja beide nicht genug Liebe bekommen, in unserem bisherigen Leben, und das kam jetzt, in unseren Küssenzum Vorschein)

Aber nicht nur sie war überrascht. Auch ich war überrascht - und zwar von mir selbst. Von meinem Mut. Denn das war schon ziemlich mutig. Denn zum einen war das Kino voll (und ein paar von den Leuten um uns herum wollten bestimmt auch einfach nur James Bond sehen). Zum anderen war das erst mein zweiter Kuss! Überhaupt. Jemals. Das zweite Mal überhaupt, dass ich eine Frau geküsst hatte. Mit achtzehn! Wie peinlich ist das denn?! 






Und das erste Mal war schon gut und gerne dreieinhalb Jahre her gewesen. Damals, im Urlaub in Ungarn. Wo ich Ani kennengelernt habe. Und mich an einem Nachmittag mit ihr am Strand getroffen hatte. Da wo mein Vater diese Fahrradfahrerin im Tanga gesehen hatte. Sah, wie ihre Arschbacken sich bewegten, auf dem heißen Sattel im ungarischen Sommer. Als wir morgens zum Strand fuhren. Oder nachmittags vom Strand zurückkehrten. In dem alten Mercedes meines Vaters die sonnige Uferstraße entlangfuhren. Hinter der Uferpromenade. Ich glaube, es war eher am Nachmittag, nach dem Essen, denn er sagte wortwörtlich: "Der kann man ja bis zum Essen hochgucken!" Oder: "Bei der kann man ja das Mittagessen sehen..." Mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Obwohl er das immer sagte, wenn er Fleisch sah. Rektalfleisch (oder auch Vaginalfleisch?). Obwohl: Ich weiß nicht, ob er am Morgen wirklich gesagt hätte "Der kann man ja bis zum Frühstück hochgucken!" 


Vielleicht einigen wir uns ja auf den folgenden tageszeitunabhängigen Satz: "Bei der kann man sehen, was die gegessen hat..." Ich sah es nie, obwohl ich auch hinguckte, und den Spruch, wie alles, was andere sagten, viel zu wörtlich nahm, viel zu ernst nahm und – Sie ahnen es – an halbversautes Essen dachte. Ich habe schon immer alles viel zu ernst genommen. Und mich wunderte sogar wirklich noch, dass ich nichts sah, dass ich nie etwas sah von dem Essen – so naiv war ich damals noch...so unschuldig... So unschuldig, dass es mich tatsächlich wunderte, dass ich nichts sah, nie etwas sah...vom Frühstück oder Mittagessen. Und heute mag ich die Filme

Auf jeden Fall hatte ich Ani am Balaton, wie der Plattensee auf Ungarisch heißt, kennengelernt und wir hatten uns für den Nachmittag falls sie über mich herfallen sollte...). Nein, das Bemerkenswerte an diesem Foto ist vielmehr wie jung ich war und wie hübsch sie war. Nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr voluptuöser Körper in diesem knappen, schwarzen Bikini. Von einem jugendlichen Hungerhaken hatte sie wirklich nichts, obwohl sie keineswegs dick war ihr rundliches Gesicht war wahrscheinlich eher ihrer slawischen Herkunft geschuldet. Die hätte auch Latina sein können... Ich sag nur: Beuteschema! Oder noch deutlicher: Die hatte ein paar Glocken, da macht es bei mir heute noch Ding Dong! Vielleicht denke ich das aber auch nur, wenn ich mir heute das Foto angucke, gut und gerne 25 Jahre später: Denn damals achtete ich, glaube ich, da gar nicht so darauf. Oder nur unbewusst. So überwältigt, wie ich von der Situation war. Ein Mädchen fand mich interessant, mich!, und ich, ich!, hatte sie angequatscht. In Deutschland hatte ich so was mit meinen zarten fünfzehn Jahren noch nicht erlebt. Ich redete Englisch, sie nicht oder kaum, ihre blonde Freundin schon, und so kam es dann zu dieser einen Verabredung, die zu meinem ersten Kuss führte. Zwar ein schlabbriger, komischer Kuss, der mir eigentlich gar nicht richtig gefiel, der sich irgendwie komisch anfühlte (vielleicht war ich ja noch zu jung, vielleicht war ich ja noch nicht bereit), aber trotzdem ein Kuss. Auf dieser Bank unter diesen Bäumen (fast schon ein kleiner Hain) am Ufer des Balaton. Ich hatte ja so keine Ahnung, wie man küsst. Ihren Mund traf ich zwar halbwegs, auf dieser Bank unter diesen Bäumen, aber der Rest. Irgendwie fühlte sich das komisch an, schlabbrig. Feucht, mit viel Spucke, was weiß ich. Nicht sexy, so gar nicht sexy. Vielleicht lag es ja daran, dass ich keine Erfahrung hatte, keine Ahnung von Tuten und Blasen...und von Küssen erst recht nicht. Dass ich noch zu jung war, zu unreif. Oder sie hatte keine Erfahrung, keine Ahnung, war noch zu jung, zu unreif. Oder wir beide... Aber irgendwie passte das nicht. Mit ein bisschen Übung vielleicht, aber der Urlaub war damals viel zu schnell vorbei und zu dem Kuss kam es auch erst am vorletzten Tag. Letztens habe ich das echt nachgeguckt, wo die damals gewohnt hat. In der Havanna utca, in Budapest. Das mit Havanna und utca ("Straße" auf Ungarisch) wusste ich noch. Und ich habe es tatsächlich gefunden! Und das obwohl der Eigentümer unserer kleinen Pension das damals noch nicht mal auf dem Stadtplan von Budapest gefunden hat. 

An Ostern habe ich das nachgeguckt. Keine Ahnung warum. Fiel mir so ein. Wahrscheinlich, weil ich Langeweile hatte, am Gründonnerstag 2018, einem 29. März...

Aber lasst uns noch ein bisschen in dieser Zeit verweilen, im Jahr 1992, und noch nicht ins Jahr 1996 zurückkehren, in dieses dunkle Kino, in dem ich sie zum ersten Mal küsste. Lasst uns noch ein bisschen in diesem 15. Jahr meines Lebens bleiben, in dem ich den Morgen am Balaton-Strand verbrachte, mir danach unter der Dusche einen runterholte und abends das Dream-Team im ungarischen Fernsehen guckte – wenn ich nicht gerade Anikó küsste, versuchte zu küssen...

Ja, das Dream-Team. Das war damals das erste Dream-Team der amerikanischen Basketballgeschichte denn vorher waren bei den Olympischen Spielen keine Profis erlaubt. Das echte und einzig wahre Dream-Team, mit Michael Jordan, Magic Johnson, Larry Bird, Charles Barkley, David Robinson, Patrick Ewing und Karl Malone...alles lebende Legenden



Ja, aber das ist vorbei. Diese Zeit  ist vorbei und wird nie wiederkehren. Dieser erste Kuss, der 1996 ohnehin von meinem zweiten Kuss in den Schatten gestellt werden sollte. Denn dieser, dieser erst zweite Kuss in meinem gesamten bisherigen Leben (ich war damals immerhin schon fast 19!), der passte! Vier Jahre später EIN EINZIGES MAL! eine Frau auf den Mund geküsst hatte. Und dann auch nur flüchtig, irgendwie schlabberig und ziemlich unbeholfen. Nicht so diesmal!

Aber lasst uns noch einen Moment innehalten, nur einen kleinen Moment noch, einen kleinen Augenblick, bevor ich weitererzähle. Damit das hier was immer das auch ist nicht vollends in eine romantische Verklärung der Vergangenheit entgleitet, die es nicht ist, nicht sein soll, nicht sein darf egal, wie sehr ich mir das auch wünsche. Denn sie hat sie hat sie zerstört, ich habe sie zerstört, die Vergangenheit, die nie wieder so sein wird, wie sie mal war, wie sie vielleicht nie gewesen ist. Und so gerne ich eine romantische Idealisierung meines bisherigen Lebens schreiben würde, so muss ich auch immer wieder an Carlos Ruiz Zafón denken, an diese Worte der Hellseherin aus Das Spiel des Engels: "Das Leben hatte sie gelehrt, dass wir Menschen nicht nur Luft zum Atmen, sondern ebenso sehr große und kleine Lügen brauchen. Sie sagte immer, wenn wir in der Lage wären, einen einzigen Tag lang vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit die Welt und uns selbst völlig ungeschminkt zu sehen, würden wir uns das Leben nehmen oder den Verstand verlieren." 
   Ich weiß also schon jetzt, dass ich scheitern werde, in meinem Versuch, das Ideal absoluter Wahrheit, absoluter Ehrlichkeit zu erreichen. Ich weiß aber auch, dass ich immer wieder aufstehen werde und versuchen werde, diesen literarischen Nullpunkt zu erreichen, der eigentlich nicht zu erreichen ist. Denn genau darin liegt für mich die Essenz, der Kern jeglicher guter Literatur. Im Versuch, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist. Oder eben war. Denn ich will und kann keine romantische Liebesgeschichte mehr schreiben, bin aber gleichzeitig noch nicht weit genug fortgeschritten, auf dem Pfad kompletter schopen-hauerscher Desillusionierung, um die Romantik komplett aus meinem Buch und meiner Seele zu verbannen, komplett auszumerzen – obwohl sie ausgemerzt gehört, zumindest in dieser Welt. 
   Also kommen wir zurück zu dem Kuss im Metropol, dem damals noch größten Kino Bonns. Nachdem ich mich durch ein paar verstohlene Blicke in Halbdunkel, nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten, versichert hatte, dass niemand zu uns rüberguckte zu diesem seltsamen, ungleichen Paar: er groß, deutsch und trotz seiner jungen Jahre schon jetzt ein bisschen schwerfällig in seinen Bewegungen, sie klein und zierlich, älter als er, eine Ausländerin ging es los.

Und Action!

Die Dunkelheit half natürlich, da konnte man eh nicht so richtig sehen, was wir machten...und dass ich eine Frau küsste, die ein paar Jährchen älter war als ich. (Sehen Sie: schmerzhafte Ehrlichkeit! Und, tut es schon weh?)

Aber in dem Moment, wo der Film anfing und ich schon fast überfallartig ihre Lippen in der Dunkelheit gefunden hatte...da passte alles. Das war nicht wie vor Jahren in Ungarn. Nein, unsere Lippen passten perfekt aufeinander, zueinander, verschmolzen förmlich in unseren Küssen, wie Schokolade in der Sonne, nein, noch besser: Eis in der Sonne. Eis, das langsam vor sich hinschmilzt und das man schnell auflecken muss, denn sonst tropft es, läuft einem über die Hand, über dieHaut. Ihrs Zironeneis oder Mangoeis oder irgendetwas Exotisches und meins Stracciatella, Nuss oder Mokka. Dunkle Schokolade... 

Das war nicht bloß ein flüchtiger Kuss im sicheren Halbdunkel eines Kinos. Das waren echte Küsse: Mit Zunge, Zähnen, ganz viel Spucke, ganz viel Speichel und allem, was dazugehört. Lippen, Leidenschaft und Lecken. Das war Wahnsinn! Wie gesagt: Vom Film sahen wir eigentlich gar nichts, vielleicht nur mal kurz beim Atemholen.

Heute, drei Jahre nach der Trennung und eins nach der Scheidung, habe ich das nachgeholt und muss sagen: So schlecht war der gar nicht, ist der gar nicht, der James Bond. Aber das Gefühl war nicht mehr da, lässt sich nicht wiederholen, ist vorbei, für immer vorbei.

Ich küsste sie wie ein ausgehungerter, wie ein verdurstender Teenager in der Wüste. So als wollte ich die lieblosen letzten achtzehn Jahre meines bisherigen Lebens an einem einzigen Sonntagnachmittag im Metropol nachholen. (Also, an diesem Nachmittag hat sie bestimmt nicht gemerkt, dass ich noch Jungfrau war, mit meinen fast 19 Jahren.) Und irgendwann, irgendwann nach unserem fast zweistündigen Kussmarathon (möchte gar nicht wissen, was das für Kalorien verbraucht hat...), verließen wir das Kino auch wieder, Händchen haltend, noch immer wie im Rausch, noch immer geflasht. Inzwischen war es Abend geworden (hatte James Bond echt so lange gedauert?!) und es wurde schon wieder dunkel. Was uns nur recht sein sollte. Denn sobald wir uns außer Sichtweite in einer der kleineren Straßen hinter dem Kino befanden, ging es weiter. Alle fünf Meter, an jeder Ecke, jedem Eingang, zu den am Feiertag natürlich geschlossenen Geschäften, hielten wir an, um uns zu küssen. Wie Hunde, die überall hinpissen, um ihr Revier zu markieren, hinterließ ich alle fünf Meter meine Lippen auf und meine Zunge und Spucke in ihrem Mund so als wollte auch ich mein Territorium markieren, wollte andere Hunde davon abhalten, in mein Revier einzudringen, in meine neue, meine erste "richtige" Freundin. Wir waren wie zwei geile Hunde, die nicht davon lassen können, sich zu beschnuppern, den gegenseitigen Geruch förmlich aufzusaugen und sich durch die Straßen zu jagen, immer getrieben von dieser unwiderstehlichen, tierischen Geilheit. Und trotz meiner fast komplett fehlenden Erfahrung in diesen Dingen, wurde ich zum pulpowie Conchita das Jahre später in Aberdeen nennen sollte zur Krake, die sich mit ihren Armen förmlich an ihrem Körper festsaugte, an ihrem jungen, braunen Fleisch. Und die tatsächlich schon bei diesem ersten Date den Weg in ihre Hose fand. In diese enge, glatte Lederhose mit den Schnüren an der Seite, die sie damals noch hatte. Von hinten zwar, aber egal. Ich konnte ja schlecht von vorne reingreifen. Und so berührten meine Finger ihre Unterhose (ich glaube, es war die rote, die rote Spitzenunterhose). Da hatten wir und glaub ich schon langsam an den Friedensplatz rangetastet und geküsst und standen da in irgendeiner dunklen Ecke oder irgendeinem Hauseingang. Mit meinen Händen immer noch in ihrer Hose, hauchte ich ihr ins Ohr: "Vamos donde ti..." Oder sagte ich das damals noch nicht auf Spanisch? Sagte ich also "Lass uns zu dir gehen...?"

Ich weiß es nicht mehr. Aber eins weiß ich: An diesem Nachmittag wäre ich mit ihr nach Hause gegangen und hätte mit ihr geschlafen. Und das obwohl ich keine Kondome dabei hatte (anders als beim nächsten Mal, wo ich sie traf). Warum denn auch, beim ersten Date?! Fast bei meinem ersten Date überhaupt. Aber das wäre mir egal gewesen, ich wäre mit ihr nach Hause gegangen und hätte mit ihr geschlafen.

Aber dazu kam es (leider) nicht. Denn sie sagte irgendetwas wie: "Nein, das geht nicht. Da sind meine Schwestern. No, no es posible. Están mis hermanas..." 

"Okay", sagte ich und gab klein bei. Vielleicht war ich ja auch froh darüber, dass ihre Schwestern da waren, wer weiß...

Scheiße

Ihre Scheiß-Schwestern


Meine Hand blieb noch ein bisschen in ihrer Hose und wir küssten uns noch ein bisschen und dann trennten wir uns. Nein, vorher gingen wir noch in dieses Café. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, über was wir damals redeten, in diesem modernen, eleganten Café an der Ecke zur Oxfordstraße, schräg gegenüber vom Stadthaus, das es heute immer noch gibt. Keinen Schimmer. Aber das war auch nicht so wichtig. Wir hatten ja schon zueinander gefunden. Und so als wäre das für uns das Allernormalste auf der Welt, so als würden wir jeden Tag in ein Café gehen, spielten wir Erwachsene, bestellten uns etwas, tranken es langsam und küssten uns vielleicht ein-, zweimal verstohlen (doch nicht hier, wo uns jeder sehen kann, nicht so viel, nicht jetzt, gleich...). Hielten Händchen, ihre Finger dünn, braun und leicht knochig und meine kurz und kräftig (obwohl noch nicht so "wurstig" wie heute, denn ich war damals noch ziemlich dünn, wie ich letztens feststellen musste, als mir alte Abitur-Fotos in die Hände fielen). So jung, so unschuldig. Beide. Kurz darauf trennten wir uns, dieses Mal tatsächlich. Gaben uns noch einen letzten Kuss und wurden dann von der Straßenbahn






 



Aber hier, wo es vermeintlich am schönsten ist, eine kleine Warnung, ein kleiner Dämpfer. Damit sie, lieber Leser, verehrter Leser, verhasster Leser, hypocrite lecteur, vom Glücksrausch unserer Protagonisten ergriffen, nicht in Sphären entschweben, die für Ihren armen Erzähler unerreichbar geworden sind. Vielleicht sogar für immer. Denn heute hat es mich – wie vor ein paar Tagen schon einmal – mit voller Wucht erwischt. Im Bus. Oder in der Bahn. Einen Moment lang war ich wie vom Schlag getroffen, erstarrte förmlich innerlich, merkte, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Wie aus heiterem Himmel musste ich plötzlich daran denken, dass sie mich einfach so verlassen hat, damals. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne auch nur eine Sekunde zurückzublicken. Ich konnte das nicht verstehen, kann es heute immer noch nicht, fast dreieinhalb Jahre danach. Wie man mit jemandem zusammen sein kann, alles teilen kann, ein ganzes Leben, und dann einfach so, von heute auf morgen verschwinden kann. So als wäre nie irgendwas gewesen. Ich will noch nicht mal mehr darüber nachdenken, wie sie das machen konnte; mein Gehirn sträubt sich förmlich gegen den Gedanken daran, besonders nach dem Besuch der Abi-Feier meiner Tochter gestern, auf die ich zuerst gar nicht gehen wollte, nur um Nadine aus dem Weg zu gehen, sie nicht sehen zu müssen, und sei es auch nur durch Zufall. Aber dann entschied ich mich doch anders, ging hin, schaffte es gute zwei Stunden, mich möglichst wenig umzugucken, von meinem Platz am rechten Rand nur auf die Bühne und auf meine Tochter zu starren, die links von mir saß. Ich wollte das auf gar keinen Fall so machen wie letztes Mal, auf der Abschlussklasse für die Zehner, wo ich mich extra mit meiner Mutter ganz hinten hingesetzt hatte, um den ganzen Saal im Blick zu haben und genau sehen zu können, wo sie sich befand, ob sie mit ihrem Neuen da war, ihrem neuen Stecher, oder ihrer Familie, ihren Schwestern, ihrem Schwager. Oder beiden. Und ich mich am Ende dazu hinreißen ließ, ihr eine peinliche SMS nach der anderen zu schicken. Im Stile von: "Du siehst gut aus. Warum treffen wir uns nicht gleich bei den Büschen?!" Oder noch viel Schlimmerem, das ich hier hier weder festhalten will noch kann (diese Zeiten sind zum Glück vorbei!) Diesmal würde alles anders sein. Und der Witz ist: Ich schaffte das sogar, drehte mich nicht um, guckte nicht zurück, nicht nach links (ich wusste instinktiv, dass sie auf der anderen Seite saß), nicht hinter mich, denn ich saß rechts, direkt hinter den vorderen drei Stuhlreihen, die für die Abiturienten selbst reserviert waren. Guckte oft zu meiner Tochter rüber, die auch links vorne mit ihren Freundinnen saß, meine Blicke aber nicht erwiderte (obwohl ich jedes Mal hoffte, sie würde doch endlich auch mal zu mir, ihrem Papa, rübergucken). Hielt bis zum Ende der Veranstaltung durch. Bis die Abiturienten für ein Gruppenfoto in den Innenhof hinter der Aula geschickt wurden. Und ich den Fehler machte, meiner Neugier zu folgen, ging zwar vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug, in Richtung des sonnenbeschienenen Innenhofs, vergaß für einen Augenblick lang, dass das der sicherste Weg war, ihr doch noch zu begegnen. Im Nachhinein muss ich mich natürlich fragen, wie ich so doof sein konnte. Aber hinterher ist man immer klüger und vielleicht war es ja auch unbewusst ein bisschen Absicht. Da hatte ich über zwei Stunden standhaft ausgehalten, ohne auch nur einmal zurückzublicken

Aber für wen posierte sie denn da? Nur einen kurzen Augenblick später wusste ich es, guckte nach links und sah sie, wie sie da stand und lachte. Mit ihr lachte, ihrer Tochter, unserer Tochter. Ich weiß nicht, ob sie mich auch sah, und ob sie dann immer noch so herzhaft gelacht hätte – vielleicht lachte sie ja sogar darüber, dass ich da war, lachte über mich, oder mit mir, freute sich. Ich nicht, soviel ist sicher. Denn kaum hatte ich sie gesehen, da schreckte ich auch schon wieder zurück, wie jemand der sich an etwas verbrannt hatte und nun blitzartig seine Hand wegzieht, ging zurück zu den mittlerweile fast vollständig leeren Sitzreihen im vorderen Teil der Aula. Und obwohl sie vielleicht nicht einmal zu mir hinüberguckte, mich vielleicht nicht einmal bemerkte, kam es mir in diesem Moment so vor, als hätte sie über mich gelacht. Und das tat weh; war aber auch wie immer, nichts Neues: Alle waren fröhlich, vergnügten sich, lachten, nur ich nicht. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, wie im Schock, schon wieder, noch immer. Ging halb benommen, halb unendlich traurig den Gang inmitten der leeren Stühle entlang, bis ich zu dem Getränkestand am anderen Ende der Aula kam, den Laptop, den ich mitgenommen hatte, weil ich direkt von der Abifeier zur Arbeit fahren wollte, in der einen Hand und den Rucksack in der anderen. Schwer tragend, immer schwer tragend, wie es sich für einen Wassermann gehört. In, an meinem Leben immer schwer tragend, immer eine Last mit mir herumschleppend, diese sichtbare und unsichtbare Last, auf meinen breiten Schultern, die mir Gott vielleicht genau für diesen Zweck gegeben hatte. Nahm mir eins dieser dünnen Gläser mit O-Saft. Nur allzu gerne hätte ich mir in diesem Moment echten Sekt genommen, mir einen angezwitschert, aber wie sehr erinnerte er mich an die letzte Abschlussfeier meiner Tochter am Ende der zehnten Klasse (wo ich noch belästigende, belastende SMS geschrieben hatte und hinterher in der Straßenbahn vor meiner Mutter geheult hatte wie ein getretener, geprügelter Hund). Ohnehin hatte ich seit Silvester vor nunmehr fast zweieinhalb Jahren nichts mehr getrunken. 


Seit diesem fatalen Abend, an dem ich in einer Nacht einen halben Liter Kaffee, eine Flasche Wein, mindestens zwei Liter Weizen und noch jede Menge Wodka getrunken hatte. Und dann, nach dem Latino-Club (ich weiß, ich weiß, selber schuld), nach zwei Haltestellen schon wieder aus dem Nachtbus aussteigen musste, weil ich sonst meinen Mageninhalt in den Schoß meines sowieso schon ängstlich dreinblickenden Sitznachbarn entleert hätte. Aber das Beste kommt noch: Ich lief wirklich mehr als eine halbe Stundewahrscheinlich auch noch am Ende der Straße. Aber danach war alles gut. Obwohl ich mir zur Sicherheit noch einen Eimer nebens Bett stellte. Und auch den Eimer in der Dusche am nächsten Morgen nicht ignorieren konnte. Wie ein Tier hatte ich geblökt und gewürgt, immer wieder. So als wollte ich alles auskotzen, die ganze Scheiße, die ganze Frustration, die ganze Trauer, die ganze Wut. Bis es nicht mehr ging, und mein Magen, mein Herz und mein Arsch leer waren. Und noch nicht mal mehr Galle kam, ich trocken aber noch ein paar Mal nachwürgen musste.

Aber kommen wir zurück zur Abschlussfeier meiner Tochter, auf der ich, wie gesagt, nichts trank. Nichts trinken wollte. Wegen besagtem Abend und auch, weil ich noch arbeiten musste und nicht auf der Arbeit nach Alkohol riechen wollte. Also gab es O-Saft. Was ich ebenfalls nicht konnte, war drinnen bleiben. Ich kannte niemanden von den anderen Eltern und war seit der Trennung auf keinem Elternabend mehr gewesen (was auch seine Vorteile hatte, wenn man weiß, wie solche Veranstaltungen in der Regel ablaufen...) und da wollte ich nicht hier herumstehen wie bestellt und nicht abgeholt, inmitten all dieser kleinen Grüppchen. Aber auch draußen wurde es nicht besser, obwohl die Sonne schien und ich mich auf die Mauer am hinteren Ende des kleinen Innenhofs hinter der Aula setzte. Was mache


Wegen deiner Tochter!

Wegen ihr? Wirklich... Sie, die jetzt da drinnen bei ihrer Mutter und Co ist. Bei ihren Freundinnen. WährendRafaelSlainté und die ganze verfickte Bagage. Die so tut als ob es mich gar nicht gäbe. Die einfach weitermachen mit ihrem Leben, ganze drei Jahre nach der Trennung. Was für eine Frechheit! Anstatt bei dir zu bleiben, Solidarität mit ihrem Vater zu zeigen. Die Faust gen Himmel zu recken und zu sagen: "Das ist mein Vater! Ich bleibe jetzt bei dem! Der ist ganz alleine hier draußen." Aber sie ist ja auch gespalten. Was soll sie denn machen?! Sie hat diese beiden Eltern, die sich mit dem Arsch nicht mehr angucken, nicht mehr miteinander reden, und muss jetzt beiden gerecht werden. Ich weiß das alles, ich verstehe das alles, rational, aber das heißt noch lange nicht, dass mein Verstand in der Lage ist, die Wut zu verdrängen, die Trauer, die Leere. Machen wir uns doch nichts vor! Am Ende, nach fünf ewig langen Minuten auf der Mauer, kam sie doch noch raus. Klar, ich war ja auch noch da. Sagte etwas, an das ich mich nicht erinnere.

   "Na..."

   "Na."

Gab mir stolz ihr Abi-Zeugnis. Nein, das hatte sie mir beim letzten Mal draußen ja schon gegeben! Bei ihrem letzten Besuch. Ich sagte nicht viel. Was sollte ich auch sagen. Und irgendwann sagte sie dann: "Ich muss dann mal wieder rein..." Oder: "Ich geh dann mal wieder rein."

   "Okay." 

   ...

   "Ich muss eh jetzt gehen. Ich muss eh gleich auf die Arbeit."

   ...
   
   "Okay, ciao bis Montag."






   
   Viel Spaß noch



   Und sie ging rein, ohne sich noch einmal umzugucken obwohl ich noch wartete –, während ich bedröppelt das Schulgelände verließ, in jeder Hand eine Tasche, und in Richtung Straßenbahn ging. Genau zu der Haltestelle vor der LVR-Klinik Bonn, in der Nähe des Kaiser-Karl-Rings, die Psychoklinik, die wir als Kinder immer nur "Kölnstraße" genannt hatten (obwohl sie genau genommen, gar nicht in der Kölnstraße war). Etwa so:

   "Pass auf, sonst kommst du noch in die Kölnstraße!"

   "Du bist wohl aus der Kölnstraße abgehauen..."

   "Du gehörst in die Kölnstraße!"

Ich saß da, wartete auf die Straßenbahn und guckte zu dieser großen roten Uhr hoch, die da steht, und die Menschen daran erinnert, dass ihre Stunde geschlagen hat oder bald schlagen wird. Ich dachte an damals, an die Trennung, an meine Mutter, an die Polizei, an die LVR-Klinik. Diese Arschlöcher, all diese Arschlöcher. Erst wenn du ganz unten bist, merkst du, wie viele Arschlöcher dich eigentlich umgeben, wie viele Arschlöcher es eigentlich gibt.

Die Abschlussfeier und dieser immer wiederkehrende Schmerz, dass sie mich einfach so verlassen konnte, ohne auch nur einmal, ein einziges Mal zurückzublicken, haben mich zu dem Entschluss kommen lassen, dass ich abschließen muss, endlich abschließen muss mit all dem Scheiß. Endlich einen Schlussstrich ziehen. Un corte, wie Conchi das damals so schön und gleichzeitig so drastisch ausgedrückt hat. So endgültig. So endgültig wie ein Adiós. ¡Un puto corte ya! Das ist mir gestern bewusst geworden. Ich habe sogar daran gedacht, mit dem ganzen Buch abzuschließen. Für immer. Aber das ist auch mein Buch, das ist auch meine Erinnerung, meine Vergangenheit. Und was auch immer die Gründe für dieses Buch sind, es erzählt MEIN LEBEN. Wie es damals war, wie es hätte sein können. Und schon allein deshalb hat es eine Daseinsberechtigung. Also kommen wir zurück ins Jahr 1996, wo ich gerade mein erstes Date mit Nadine erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Und natürlich wollte ich sie nach dieser Kussorgie wiedersehen. Was ich auch tat. Denn ein paar Tage später (oder schon am nächsten Tag? Oder erst am nächsten Wochenende?) lud sie mich zu sich nach Hause ein. In die Altstadt. Sie wohnte in der Adolfstraße. Und die hieß tatsächlich so, was mir im Laufe der Jahre das eine oder andere Grinsen aufs Gesicht zauberte. Doch anders als der Name vielleicht vermuten lässt, hatte die Straße, in der selbst ich später eine Zeit lang wohnen sollte, nichts mit diesem Adolf zu tun. Obwohl ich mal irgendwo gelesen habe, dass es damals, während des Dritten Reiches einen Adolf-Hitler-Platz mitten im Zentrum von Bonn gab (ich glaube, da wo heute der Berliner Platz ist, aber ich kann mich da auch täuschen).

Ich setzte mich also auf mein Fahrrad (ein Mountainbike, mit dem ich auch zur Schule fuhr und das mir eigentlich schon zu klein geworden war, schon immer zu klein gewesen war), steckte mir die Ohrstöpsel des Walkmans in die Ohren und fuhr los. Today is gonna be the day... Oder hörte ich da noch kein Oasis? War das später? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann auf dem Weg zu ihr, der an der Bahn entlangführte, Oasis hörte. Definitely Maybe. Eigentlich hätte mich das ja warnen sollen, diese Texte...und besonders die der beiden bekanntesten Oasis-Lieder, "Wonderwall" und "Don't look back in anger". Aber damals war ich definitiv noch nicht so gut in Englisch; und außerdem noch nicht so ein Textfanatiker. Und zu guter Letzt war ich viel zu verliebt. So verliebt, dass ich, wie ich so auf meinem Fahrrad saß und an den Bahngleisen entlang von Kessenich in die Altstadt fuhr, nur an eine Sache dachte...

...ich brauche noch Kondome...

Scheiße

Und das war nach dem, was nach dem Kino passiert war, diesmal wohl wirklich keine jugendliche Übertreibung oder Angeberei. Denn wenn wir schon beim ersten "Date" nach dem Kino wild fummelnd in Straßenecken landeten, was sollte dann erst jetzt passieren, wenn ich bei ihr zu Hause war? Okay, ihre Schwestern waren auch noch da, aber trotzdem. Und ohne Kondom hätte ich damals wohl nicht mit ihr geschlafen, obwohl ich später, wo sie die Pille nahm, nicht mehr mit Kondom mit ihr geschlafen hätte. Der bloße Gedanke daran, wie ich in sie eindringe, ruft bei mir ein Kribbeln in der Hüftgegend hervor. Boah, wie schön das jedes Mal war, dieser Moment des Widerstandes, bevor mein Penis ganz in ihre Scheide eintauchte. Dieses Weiche, Geile

Vielleicht war das ja genau einer der Gründe, warum die Ehe am Ende nicht hielt. Dass ich immer nur Sex von ihr wollte. Oder anders ausgedrückt: Dass ich nur ihren Körper wollte und nicht sie, ihren Geist, sie als Person, als Mensch. Oder sie das dachte.

Aber ist das nicht genauso ein Mindfuck?

Denn heute, wo ich so darüber nachdenke, über unsere gescheiterte Ehe, frage ich mich immer wieder, ob ich wirklich nur Sex von ihr wollte, wie es bei ihr und vielleicht auch in meinen Gedanken oft durchklang. Aber ist denn (nur) Sex so was Schlimmes? Ist es nicht die oberste Aufgabe des Menschen, sich fortzupflanzen und so den Fortbestand der menschlichen Rasse zu sichern? Sind auf dem Intellekt beruhende Beziehungen wirklich das höchste der Gefühle? Oder doch nur eine Ersatzbefriedigung? Ist es wirklich der Kopf, der einen bei einer Frau oder einem Mann anzieht? Das ist doch alles Quatsch, Welt- und Selbstverbesserungsquatsch, wie er heute durch das Internet bis in die kleinste Ecke verbreitet wird, aber dadurch nicht weniger verlogen und selbstbetrügerisch ist. Und außerdem ist ja Sex auch so viel mehr als nur Sex. Sex ist auch Wärme, zum Beispiel, oder ein Austausch von Zärtlichkeiten, den man alleine durch Gespräche - egal wie intellektuell anregend diese auch sein mögen - nicht erreichen kann. Aber vielleicht bin ich ja auch noch zu nah am Neandertaler gebaut, wer weiß. Aber diese ganze "Wir-müssen-den-anderen-für-seine-Einzigartigkeit-Persönlichkeit-und-seinen-Kopf-schätzen-und-nicht-für-seinen-Arsch-und-seine-Titten"-Scheiße hat uns vielleicht ja erst da hingebracht, wo wir jetzt sind: in einem alternden, verkopften, kinderfeindlichen Europa, das ausstirbt. Das an seiner Hirnwichserei zugrunde geht.

Der Mensch ist ein Tier, der Mensch ist auch immer ein Tier.


Aber lasst uns weitermachen, immer weiter (wir wollen ja fertig werden...): Ich saß also auf meinem zu kleinen Fahrrad, fuhr Richtung Stadt und musste noch Kondome kaufen. Denn das waren schließlich die 90er. Und da war AIDS noch in aller Munde. Ok, im Mund vielleicht nicht, obwohl es da widersprüchliche Aussagen gab. Ich weiß noch, dass ein Freund mir erzählte, dass man 9 (!) Liter Spucke trinken musste, um AIDS zu bekommen; gleichtzeitig stand aber in der Bravo, die ich natürlich ein paar Jahre früher immer gelesen hatte oder immer noch las (und hier besonders gerne das Dr. Sommer), dass Zungenküsse gefährlich sein konnten, je nachdem, welche Verletzungen man im Mund hatte. Und dann waren da natürlich Stars wie Magic Johnson, von dem ich als Basketball- und Lakers-Fan sogar ein Poster in meinem Zimmer hängen hatte, der einer der wenigen von denen war, die sich damals angesteckt hatten (er hatte wohl immer wilde Partys mit den Lakers-Cheerleadern), aber bis heute überlebt haben. Was man von Eazy-E von N.W.A. und Freddie Mercury nicht sagen kann. Der war sogar Schulgespräch gewesen, damals, daran erinnere ich mich noch ganz genau, an dem Tag, wo das in der Zeitung stand, dass er gestorben war. Das weiß ich noch, da standen wir morgens auf dem Schulhof und redeten über Queen und Freddie Mercury, was ja bei dem Bekanntheitsgrad und bei den ganzen Liedern wie "We Are The Champions", "We Will Rock You" oder "Bohemian Rhapsody" auch kein Wunder war. Über Freddie Mercury und diesen Schwimmer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, aber der auch an AIDS gestorben war. Und sterben wollte ich damals noch nicht, mit gerade mal 18 Jahren; denn trotz Magic Johnson war AIDS damals echt noch ein fast sicheres Todesurteil, anders als heute, obwohl ich mir da auch nicht so sicher bin. Wusste ich denn, mit wem sie vorher alles geschlafen hatte?! Bah, das wollte ich mir gar nicht vorstellen. Manche Sachen will man gar nicht genau wissen. Oder wie James Kelman in einem seiner Bücher sagt - und ich betone, dies ist ein Zitat oder zumindest paraphrasiert: "Eine Reihe von Schwänzen..." ...wie sie in sie eindringen (und das ist jetz leider kein Zitat mehr, con perdón). Langsam und schnell, brutal und sanft, lange Schwänze, kurze Schwänze, dicke Schwänze, dünne Schwänze und so weiter und sofort (you get the picture). Kannte ich sie denn?! Nur ein paar Tage. Und wenn sie gleich nach dem ersten richtigen Date sich von hinten in die Hose greifen ließ und vielleicht sogar fast mit mir geschlafen hätte, dann musste ich auf alle Eventualitäten zumindest vorbereitet sein.

Also ging es Richtung Hauptbahnhof. Das war der einzige Ort, wo ich wusste, dass es einen Kondomautomaten gab (die Geschäft hatten ja auch nicht auf). Aber das war gar nicht so einfach: Denn der Kondomautomat befand sich natürlich auf der Bahnhofstoilette - wo denn auch sonst?! Aber da musste ich jetzt durch, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer ****** will, der muss nicht nur durch schales Pipi auf der Bahnhofstoilette waten. Nein: Der muss auch...50 Pfennig haben, um auf dieses natürlich äußerst saubere Klo gehen zu können. Scheiße! Diese Arschlöcher! Ich will doch gar nicht auf Klo. Ich will doch nur...Kondome! Mannomann! Zum Glück hatte ich noch ein 50-Pfennig-Stück (was hätte ich nur getan, wenn nicht - über das Drehkreuz springen?), stieg auf Zehenspitzen durch die Pipi-Suppe auf dem Boden der Toilette (wenn die schon von jedem 50 Pfennig nahmen, warum konnten sie die Toilette dann nicht wenigstens richtig sauber halten?!) und fand den Kondomautomaten. Es gab auch keine wirkliche Auswahl (das erste von zwei Fächern war leer oder kaputt), sondern nur irgendwelche schwarzen Päckchen, auf denen ein paar fröhliche Kondome mit Augen, Nase und Mund beim Tanzen dargestellt waren. Stellt euch das mal vor: schwarze Kondome! Aber in der Not nimmt der Teufel auch schwarze Kondome. Schnell schlich ich mich aus dem Bahnhofsklo heraus, guckte mich noch mal um, ob mich auch wirklich keiner gesehen hatte und machte mich auf den Rest meines Weges in die Altstadt. Die nicht mehr sehr weit weg war. Wie schon gesagt, wohnte sie (mit ihren Schwestern) in der Adolfstraße, fast direkt gegenüber der Polizeiwache in der Bornheimer Straße, am Anfang der Adolfstraße. Ich war so nervös, dass ich erst mal einmal an ihrer Erdgeschoss-Wohnung vorbeifuhr, bevor ich mein Fahrrad abstellte und vorsichtig zur Tür dieses unscheinbaren grauen Hauses ging, fast schon schlich.

Ich kam da an und war klitschnass. Zog mir die Hose aus. Wurde genötigt, die Hose auszuziehen...nein, das war später. Oder an dem Tag? Nein, das kann nicht am ersten Tag gewesen sein, wo ich da war. Sonst hätte ich mich ja nicht zuerst nach links und rechts umgeguckt, wäre nicht noch mal um den Block gefahren, nachdem ich schon lange wusste, welches Haus ihres war. Nein, das muss später gewesen sein, aber auch noch ziemlich am Anfang, wo alles noch gut war zwischen ihren Schwestern und mir, boah, wie lang muss das her sein. 

Ein anderes Mal musste ich die Hosen runterlassen, natürlich ganz sittsam, in eine dicke Wolldecke gehüllt. Doch schon bald sollte ich auch zum ersten Mal richtig die Hosen runterlassen. Aber dazu später. Vorerst war ich erst mal bei ihr zu Hause. Lernte ihre Schwestern können. KomischHerzen im Gleichklang verknüpfe, zwei nackte, leicht schwitzige Körper, die verzweifelt versuchen, ihre Herzen in Einklang zu bringen. Das störte mich damals noch überhaupt nicht und auch die Wohnung fand ich nicht zu klein für drei junge Frauen, das war halt alles noch zu viel Abenteuer. Auch ansonsten war die kleine Wohnung eher spärlich und nicht gerade luxuriös eingerichtet. In der Küche stand ein alter Herd, der noch Platten hatte und noch kein Ceranfeld, die damals gerade in Mode kamen (meine Mutter hatte schon eins!). Im Wohnzimmer gab es einen alten massiven Holzschrank, in dem sie ihre Klamotten und Papiere aufbewahrte, so einen Schrank aus Stoff mit noch mehr Klamotten und zwei alte Sofas (die mir ebenfalls gut in Erinnerung geblieben sind). Aber das beste am Wohnzimmer war das Poster über dem Sofa; denn da hing ein riesiges Poster einer exotischen Schönheit, die sich halbnackt (oder war sie ganz nackt?) vor einem Hintergrund aus Palmen und Dschungel räkelte. Das heißt, eigentlich räkelte sie sich nicht, sondern posierte mit ihrem braunen halb oder eben komplett nackten Körper vor Palmen oder irgendwelchen Dschungelbäumen. Keine Ahnung, warum die das da hängen hatten; vielleicht drückte das irgendwelche geheimen Wünsche oder Sehnsüchte aus, was weiß ich. Das Poster war glaub ich aus Kolumbien, da war glaub ich eine spanische Aufschrift drauf, aber an die erinnere ich mich nicht mehr. An die Frau schon. Das alles war so neu, dass ich es am Anfang gar nicht richtig aufnehmen konnte. Das galt auch für Nadines Schwestern, obwohl ich die bei der Silvesterfeier in der Disko schon flüchtig kennengelernt hatte. Daran erinnere ich mich noch: Die mittlere Schwester (in Deutschland) hatte damals diese Rastafrisur oder wie das heißt. Cornrows, glaube ich. Genau das hatte die. Cornrows! So heißen die! Wie diese Schwarzen. Und obwohl sie als Ecuadorianerin natürlich nicht weiß war, war sie auch keineswegs schwarz. Braun eben. Dabei hatte die gar nicht so viele Haare. Und vor allen Dingen nicht so dichte. Die, die sie hatte, waren eher glatt und dünn eben. Ich glaube sogar, mich daran erinnern zu können, dass sie ein richtiges Loch oberhalb der Stirn hatte. Aber damals wäre mir das noch nicht aufgefallen. Das heißt, aufgefallen schon, aber es störte mich nicht. Auch sie störte es nicht, nicht im Geringsten, warum sollte es auch. Sie lächelte das Loch einfach weg. Mit ihrem fröhlichen, leicht koketten Lächeln. Das irgendetwas hatte, etwas Freches, Insolentes, fast schon Unverschämtes. Doch damals fand ich sie nett, beide. Ihre andere Schwester war älter als die mittlere, gesetzter. Seriöser. Aber auch trockener, zynischer, abgeklärter. Ja, Mandy hatte immer etwas Überlegenes, fast schon Überhebliches an sich. Diese trockene, leicht verächtliche Lächeln, das sie hatte. So als wollte sie ständig sagen: "Was wollt ihr schon?!". Damals wusste ich noch nichts von ihrem Ehemann Rafael. Ach, was waren das doch für glückliche Zeiten. Auch Mandy mochte mich am Anfang, oder zumindest glaube ich das. Denn bei Mandy mit ihrer kühlen, fast schon zynischen Art wusste man nie. Aber egal: Slainté war ja nett, wenigstens damals noch. Ich kam also da an, mit nasser Hose, und die gaben mir eine Wolldecke, eine dieser dicken, großen Wolldecken, die es in Ecuador überall zu kaufen gibt, und die in den Anden die fehlenden Heizungen ersetzen. Und ich saß da, in der Unterhose, unter der Decke, während meine Hose auf der Heizung unter dem Fenster zur Straße brutzelte. Und guckte Nadine an, oder redete mit ihr. Gab ihr vielleicht die Hand, hielt ihre Hand in meiner... Nein: Noch nicht. Nicht vor ihren Schwestern. So weit waren wir noch nicht. Aber zusammen waren wir schon. Ich hatte endlich eine Freundin; und ich würde mir das nicht kaputt machen, ich würde mir das nicht nehmen lassen, koste es, was es wolle. Ich würde so gut und nett zu ihr sein wie möglich. Das sagte ich mir immer, als ich mit dem Fahrrad zu ihr in die Altstadt fuhr: "Du wirst sie gut behandeln. Du wirst gut zu ihr sein. Damit sie bei dir bleibt." Damit du deine Freundin nicht gleich wieder verlierst. Ich habe mir da richtig Druck gemacht. Mich immer wieder daran erinnert, dass ich gut zu ihr sein müsste. Nett. Zuvorkommend. Gut. Aber wenigstens war das angenehmen Druck. Und am Anfang schaffte ich es auch weitestgehend. War nicht eifersüchtig, nicht besitzergreifend, nicht wütend, nicht depressiv, nicht niedergeschlagen...wie später so oft... Strengte mich an, war nett zu ihr, streichelte ihr Gesicht, ihre Wange, küsste sie, wann immer ich konnte. Jahre später gab sie zu, dass ihr das Streicheln ihrer Wangen oft zu viel war. Oder manchmal, ich weiß es nicht mehr. Von meinen Küssen konnte sie auf jeden Fall nie genug bekommen. Und so verschwanden wir in dieser Anfangszeit unserer Beziehung an jeder Straßenecke, in jedem Hauseingang, in jeder Passage, auf jeder Parkbank, hinter jedem Baum, um unsere Lippen zu spüren, uns die Zunge in den Hals zu stecken und manchmal sogar unsere Zähne aneinander zu schlagen. Das hatte nach unserem ersten Kinobesuch angefangen. Und wenn wir einmal dabei waren, ging das immer weiter. Dann waren wir nicht mehr zu trennen...wie siamesishe Zwillinge. Das war so schlimm, dass wir keine fünf Meter gehen konnten, natürlich Händchen haltendJungfrau war, bremste dieses Verlangen nicht, diesen Wunsch nach Liebe, nach Wärme, nach Haut, nackter Haut. Wenn man mich so gesehen hätte, wie ich an jeder Pissecke mit ihr verschwand, um mir noch mehr Küsse abzuholen, hätte man im Leben nicht daran gedacht, dass ich ein blutiger Anfänger war, eine männliche Jungfrau, was noch viel schlimmer als eine weibliche ist. Und das gefiel mir. Sollten sie doch gucken. Ja, da guckt ihr! 

Wie Mario. Der ganz schön dumm aus der Wäsche guckte, als ich ihm irgendwann in der Schule sagte, dass ich eine Freundin hatte. Und sogar noch dümmer guckte - wenn das möglich ist -, als ich ihm nichts weiter sagte. Denn er hatte mir, der männlichen Jungfrau, immer alles von seiner Freundin erzählt. Da waren Sachen dabei, das kann ich Ihnen sagen. Er schlief schon mit seiner Freundin, einer Inderin, das heißt, ihre Eltern waren aus Indien und sie war ein wirklich nettes

Echt jetzt?! Leck mich am Arsch! Physik! Metereologie. Oder was auch immer. Chemie, haha. Aber wenn ich so drüber nachdenke, bin ich mir über die Chemie nicht so wirklich sicher. Denn einmal...einmal erzählte er mir - wieder auf dem Schulhof -, dass mit Janet doch nicht alles so rosarot beschlagen war wie er es mir in seinen Auto-Geschichten weismachen wollte. Und er machte den Kardinalfehler Nummer eins: Er fragte mich um Rat. Mich, die eiserne Jungfrau. Mich, der ich überhaupt keine Ahnung von diese Dingen hatte - sonst wäre ich ja keine Jungfrau mehr gewesen. Aber vielleicht erzählte er mir das, was er mir erzählte, ja genau deshalb. Nämlich, weil ich keine Ahnung hatte. Und er mich beeindrucken wollte. Aber warum mich, wer war ich schon? Aber vielleicht wollte er ja auch nur einfach zeigen, wie cool er ist, wollte mir zeigen, was für ein Kerl er doch ist, was für ein toller Hecht. All diese pikanten Details, die ich arme, männliche Jungfrau mir damals anhören musste. Einmal...ja, einmal erzählte mir Mario, wie er versucht hatte, mit ihr zu schlafen, aber...wie soll ich das jetzt sagen...am besten sage ich es mit ihm, sage es, wie er es sagte. Er sagte also auf dem Schulhof, vielleicht sogar noch während ich mein Pausenbrot am Essen war...nein, nur Spaß, keine Angst, es war bestimmt schon verspeist: "Aber der ging nicht richtig rein..." Hatte er das gerade echt gesagt? Und dazu diese eindeutig zweideutige Handbewegung gemacht. Ich habe solche Gesten bei Männern immer gehasst, Männer, die so was machen sind einfach, keine Ahnung... Was wollte er mir sagen, indem er mit einem Grinsen den oberen Teil seines Daumens vor meiner Nase abknickte, um mir zu verdeutlichen, wie er nicht richtig "reinging". Ich meine, ich verstand das schon: Sein Daumen war sein Penis. Und der...ging eben nicht rein... Keine Ahnung warum...wahrscheinlich aber genau deswegen. Ich meine, die arme Freundin. Die war wahrscheinlich tierisch nervös (das war ja schließlich ihr erstes Mal mit Mario). Und dann wollte Mario auch noch den Holzhammer auspacken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Hämmerchen. Am Ende konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ihr das mit mir nicht passiert wäre. Was für ein Spacken...und das war eine tolle Frau, ein tolles Mädchen... Warum kriegen tolle Mädchen/Frauen nur immer solche Arschlöcher? Aber gut: So toll kann er ja auch nicht gewesen sein. Wenn es bei ihm nicht fluppte. Oder wie er sagte: Wenn er nicht reinging. Wochen, Monate später ging meiner rein, ohne Probleme, aber so weit sind wir noch nicht...

Gestern habe ich dieses Lied gehört. Dieses Lied von den Toten Hosen. Mit dem leicht paradoxen Titel "Kein Alkohol ist auch keine Lösung". Und dabei ist mir eingefallen...ich habe ihr auch eine Rose gekauft, damals in der Disko...eine einzige, von einem Inder...an unserem ersten Abend in der Disko...wie lange ist das jetzt her...23 Jahre...und heute, heute kann ich mit Fug und Recht sagen: Ich habe dir vergeben, Nadine, vergeben und vergessen...man muss auch vergeben können...und Mann eben auch... Ich meine, zusammen sein mit dir könnte ich nicht mehr...aber Schwamm drüber...Schwamm über die Vergangenheit...lass uns vergeben und vergessen...wir haben die schönste Tochter der Welt gezeugt und das allein war es wert...die ganze Scheiße, all die Jahre, die Langeweile einer Ehe, die Pseudo-Partys, die Verwandten und deine Familie...all die verpassten Chancen...all der schlechte Sex...Nadine, ich vergebe dir (am schlechten Sex war ich ja auch beteiligt)...und unsere Tochter ist der beste Beweis, dass es das wert war, alles wert war...

Aber kommen wir zurück zu unserer Geschichte. Wir waren also so etwas wie "zusammen". Und ich fuhr mit dem Fahrrad zu ihr in die Altstadt. Mit meinem Mountain-Bike, das eigentlich schon eine Größe zu klein für mich war. Immer mit Oasis auf dem Ohr. Damit hatte ich gerade erst angefangen. Mich gerade erst von meiner Jugend befreit, in der ich fast ausschließlich Gangsta-Rap gehört hatte. Das war schön, endlich jemanden zu haben. Endlich war sie da, die Freundin, nach der ich mich so lange gesehnt hatte. Und ich wollte das nicht versauen, auf keinen Fall. Also musste ich alles richtig machen, musste sie gut behandeln. Ich redete es mir immer wieder ein: Du musst besonders gut sein, besonders nett zu ihr. Du musst dich benehmen. Du musst dich anstrengen. Damit sie bei dir bleibt. Damit du sie nicht direkt wieder verlierst.

Natürlich war das ein Fehler. Aber so war ich halt. Ich weiß noch, einmal dachte ich das genau als ich bei ihr reinkam: Du musst dich anstrengen. Diesmal muss es klappen. Anders als bei deiner Mutter...mit deiner Mutter. Wo du immer alles falsch gemacht hast.

Das hielt mich natürlich nicht davon ab, trotzdem alles falsch zu machen. Vielleicht noch nicht in diesem Moment, aber später dann schon. Aber zumindest am Anfang war noch alles eitel Sonnenschein, wie mein Vater sagen würde. Ich fuhr zu ihr, wir küssten uns, wir knutschten und schlabberten wie wild rum, waren die ganze Zeit zusammen, ich streichelte ihr mit der Hand über das Gesicht, immer und immer wieder. Über die Backe, die Wange, weil die Arschbacken waren es noch nicht. Wir küssten uns, machten überall rum, wo es möglich war (im Park, im Hausflur, an Haltestellen, in Eingängen aller Art, hinter der Beethoven-Statue, auf dem Spielplatz), hielten Händchen (bei ihr klang das immer wie "Hähnchen", wenn sie das sagte, mit ihrem spanischen Akzent), obwohl die Kondome noch nicht zum Einsatz kommen sollten, nicht so schnell. Trotz unseres stürmischen Anfangs. Einmal kam sie sogar heimlich zu mir nach Hause. Keine Ahnung, was mich da geritten hatte. Meine Geilheit wahrscheinlich. Oder ihre Geilheit? Das passiert, wenn der kleine Kopf da unten das Kommando übernimmt, würde Terrence Popp sagen. Auf jeden Fall durchschritten wir zusammen die Toreinfahrt. Vielleicht sogar Händchen haltend. Doch als wir im Hinterhof angekommen waren, wo sich die Wohnung meiner Eltern befand, guckte ich mich schon noch mal nach allen Seiten um. Nicht dass die Nachbarn. Die Jungfrauen von oben, vom Vorderhaus. Eigentlich waren die gar keine Jungfrauen mehr, schon lange nicht mehr, aber dein Vater nannte sie so. Keine Ahnung warum. Wahrscheinlich, weil sie beide nicht verheiratet waren. Und irgendwie liiert waren sie meines Wissens nach auch nicht. Aber zum Glück war niemand zu sehen. Auch nicht im Büro der Filmfirma, das sich direkt unter der Wohnung meiner Eltern befand. Die mochten mich eh nicht, da musste ich aufpassen. Aber es lief alles glatt. Und sie folgte mir ins Innere des Hauses. Erst durch den Flur...der Nachbar saß zum Glück nicht da...oder war der da schon tot? Ich glaube schon. Im Flur saß er jedenfalls nicht. Das war immer sein Platz, im Flur. An diesem einfachen, kleinen Gartentisch, immer am Rauchen. Und im Frühjahr sagte er einmal sogar zu meiner Mutter, dass er Frühlingsgefühle hätte. Das heißt, so blumig hat er sich nicht ausgedrückt. Stattdessen sagte er irgendwas von Säften, die in ihm aufsteigen. Was meiner Mutter natürlich übel aufstieß. Keine Ahnung warum. Aber das war in diesem Moment auch nicht mein Problem. Denn ich schloss gerade die untere Haustür auf und ging vor Nadine die schmale Treppe nach oben. Wobei ich ein bisschen Angst hatte. Schließlich war das das Terrain meiner Mutter, ihr Revier, auf das ich mich hier begab. Und wenn die mich hier mit Nadine erwischt hätte. Wie ein paar Monate darauf in der Badewanne. Aber davon später. Noch war es nicht so weit, dass wir gemeinsam badeten. Stattdessen gingen wir ganz gesittet gemeinsam die "Hühnerleiter" hoch (wie meine Mutter die steile, enge Holztreppe nannte, die in den ersten Stock führte...). Und da ich natürlich vorging, starrte ich ihr noch nicht mal auf den nicht vorhandenen Arsch. Im ersten Stock, wo das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer meiner Eltern war, hielt ich mich erst gar nicht lange auf. Sondern steuerte direkt die zweite, noch engere Hühnerleiter nach oben an. Wie gesagt: Keine Ahnung, was mich, was uns da getrieben hatte. Aber was auch immer es war, es trieb uns erst die Treppe hoch und dann direkt in mein Zimmer. Noch kurz durch den Vorraum, in dem die Trümmer meiner Kindheit standen. Das Playmobil, Lego, die Modellautos, die Dartscheibe. Aber das sah ich an diesem Nachmittag gar nicht, ich sah nur sie. Wir gingen in mein Zimmer, mein altes Kinderzimmer. Sie guckte sich bestimmt kurz um, aber daran erinnere ich mich nicht. Vielleicht guckte sie sich ja mein Modellflugzeug an. Oder meine alten Hefte aus der Grundschule. Die Fußballbildchen an der alten Schrankwand über meinem Jugendbett. Felix Magath bei Uerdingen, das einzige Bild, an das ich mich noch erinnere. Obwohl, hatte ich die überhaupt noch oder schon das neue, schwarze Futon-Bett. Denn genau da landeten wir: im Bett. Keine Ahnung, wie es so schnell dazu kam, aber das war alles so effortless, wie Corey Wayne sagen würde. Obwohl, ganz so überraschend war das dann auch wieder nicht. Denn wir waren ja auch schon nach unserem Kinobesuch fast schon übereinander hergefallen. Bestimmt war ich ihr dabei auch irgendwann unter den Pullover gegangen. Ne, streichen wir das bestimmt...ganz sicher! Aber diesmal war das mehr, ging weiter. Sie lag unter mir, neben mir, unter mir. Wir küssten uns. Wie verrückt, wie entfesselt. Ich war fasziniert von ihrer...Nase...ihrer lateinamerikanischen Nase. Ich meine, den Pullover schob ich ihr auch nach oben. Mitsamt BH. Sie hatte, glaube ich, so einen normalen Stoff-BH an. Mit Blümchen, glaube ich. Keine Spitze, keine Polster, gar nichts. So ein lockerer. Wo die Dinger bestimmt irgendwann von alleine herausgefallen wären, wären meine Hände nicht schneller gewesen. Und so hing ihr BH schwuppsdiwupps da, wo er nicht hingehörte, nämlich über ihren Brüsten. Sie hatte schöne Titten. Kleine, braune, schöne Titten. Mit diesen großen, langen Brustwarzen. Wenn ich so drüber nachdenke, dann war das das erste Mal, dass ich überhaupt Titten live gesehen hatte - außer natürlich denen meiner Mutter. Diese waren aber definitiv kleiner, brauner und jünger. Und obwohl das alles so herrlich kaffeebraunes Neuland für mich war, hielt ich nicht inne. Und knetete und lutschte, was das Zeug hält. So als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Das fühlte sich so geil an, ich war so geil. All die aufgestaute Energie. Und jetzt war sie endlich da: meine erste Hühnerbrust. Aber mehr als Hühnerbrust gab es an diesem Tag nicht. Vielleicht ging ich ihr ja mit der Hand in die Hose. Vielleicht kam ich ja sogar bis an die Schamgrenze, an diese Stoppeln, da, wo sie sich immer rasierte, diese Stoppeln am Rande des Bermudadreiecks, die so unglaublich sexy waren. Doch da hielt ich inne. Meine Hände glitten wieder nach oben, über ihr kleines Bäuchlein hoch zu ihren Brüsten. Denn in meinem Hinterkopf spukte der Gedanke herum: Was würde passieren, wenn meine Eltern nach Hause kämen? Und so war ihr Unterleib vorerst vor meinen Händen sicher, was natürlich nicht für ihren Oberkörper und ihre Brüste galt. Ihre Titten. Stattdessen bewunderte ich von oben ihre südamerikanische Nase, die mich irgendwie anzog, die ich irgendwie voll sexy fand. Mehr als ihren Arsch? Ihren nackten Arsch? Weiß ich nicht. Und wie wir wissen.: Wenn wir "weiß nicht" sagen, wissen wir ganz genau warum. Vielleicht war es ja auch, um nicht ihre Falten zu sehen, aber ich liebte diese Nase, fühlte eine Zärtlichkeit für sie. Ja, okay, sie war älter als ich, aber deswegen würde ich doch jetzt nicht aufhören, jetzt, so kurz vor dem Ziel. Vor meinem ersten Mal. Das heute nicht mehr stattfinden sollte, aber dem ich so nahe gekommen war wie noch nie. Und so zog sie sich wieder an, zog sich den Pullover wieder runter, rückte sich vorher noch ihren BH zurecht und schwups waren ihre titties, ihre tetas wieder weg und sie war schon wieder raus aus dem Bett. Guckte sich noch einmal in meinem Zimmer um, guckte sich mein großes, weißes Tornado-Modellflugzeug mit der Deutschlandflagge auf dem Heckruder an und relativ schnell danach waren wir auch wieder draußen, gingen zusammen durch die Toreinfahrt, die zum Hinterhof führte, nach draußen, auf die Straße, lachend. Boah, heute will ich mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn uns meine Mutter erwischt hätte. Wie ein paar Wochen später in der Badewanne. Aber dazu mehr später. Geduld, Geduld.

Das waren also meine ersten...,äh,...Titten. Live-Titten. Außer natürlich denen deiner Mutter. Die ich des Häufigeren erblicken musste, als sie nach der Dusche wieder mal nicht halbnackt, sondern ganz nackt durch die Wohnung rannte...die 68er lassen grüßen! Aber diese waren brauner, kleiner, jünger und...schöner. Mit diesen langen braunen Brustwarzen.

Und lachend liefen wir hinter der Toreinfahrt, die in unseren Hof führte, auf die Straße, sie und ich. Oder war es am Ende doch nur ein verschmitztes Grinsen und ein verstohlenes Umgucken nach allen Seiten? Meinerseits... Keine Ahnung, aber ich war glücklich...

Und meine Mutter merkte auch nichts. Nicht wie später bei der Badewanne.


Es folgen diffuse Erinnerungen an heiße und, vor allen Dingen, lange Küsse, Umarmungen, Betatschungen und Fast-Sex. Die Wiese vor der Beethovenhalle, ich drücke sie im Halbdunkel an diesen Baum, küsse sie, meine Hände gehen unter ihre Jacke, ihren Pullover, unter ihren BH, in ihr Höschen. "Larson, nicht hier, lass das, ohhh...", sagt sie halb mahnend, halb lustvoll, wir sitzen am Rhein abwechselnd aufeinander, nebeneinander, untereinander. Wie sie auf der Bank auf mir sitzt und ich sie spüre, ihren Körper. Unter dem dicken Pullover und der Jacke, denn da war es noch Winter, am Anfang. Ja, am Anfang. Das waren noch Zeiten. Da waren die Küsse noch kleine Marathons, mit Zähnen, die aneinander stießen, Zungen, Spucke. Wo immer wir konnten, fielen wir übereinander her, hatte keine Kontrolle über unsere Hände, Zungen, Körper.

"¡Eh, travieso! ¡Larson, deja eso!"

Wie ich das liebte, das damals zu hören.

"¡Travieso! ¡Zoquete!"

Immer wieder, denn ich war aber auch schlimm damals. Jedes Mal, wenn wir zusammen im Flur verschwanden. Oder eben in diesem hängenblieben, weil wir uns nicht trennen konnten, weil wir uns einfach nicht voneinander losreißen konnten. Schliefen wir da eigentlich schon miteinander? Ah, ich weiß es nicht mehr. Beim besten Willen nicht. Das ist so lange her. Schliefen wir da schon miteinander? Ab wann fing ich an, ihr jedes Mal im Flur unter das Oberteil zu gehen. Wann fing ich an, im Flur, mitten im Flur, an ihren Titten zu lutschen? Das sind die Fragen, die die Welt bedeuten. Das sind die wirklich wichtigen Fragen. Bestimmt schliefen wir da schon miteinander. Warum sollte ich ständig im Flur an ihren Titten lutschen, aber nicht mit ihr schlafen?! Dann war das bestimmt erst irgendwann später. Nach unserem ersten Mal. Warum machte ich das? Wie fing das an? Wann? Keine Ahnung. Wir waren ja von Anfang an sehr physisch gewesen. Ich war förmlich vernarrt in sie, besuchte sie fast täglich, suchte die ganze Zeit ihre Hände, ihre Lippen, ihren Körper, strich ihr immer wieder sanft über die Wange. Später, viel später, sagte sie mir, dass ihr das sogar ein bisschen auf die Nerven ging, dieses ständige Gestreichel. Wobei sie sich mehrfach schnell über die Wange strich und ein ironisches Gesicht machte. Aber zu dem Zeitpunkt störte mich das nicht, ja, ich bemerkte es noch nicht mal. Ich war froh, endlich jemanden zu haben, jemanden, der mich liebte; high von so vielen Küssen, Streicheleinheiten, Titten, Fleisch, Gesprächen, einfach allem. Und nur wenig trübte meine Wolke sieben. Estaba en las nubes, wie Jahre später eine andere spanische Muttersprachlerin zu mir sagen würde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Natürlich konnte ich bei so viel Glück, so viel Euphorie, so vielen Hormonen nicht meine Klappe halten. Schließlich musste ich der Welt ja zeigen, dass auch ich etwas zustande bringen konnte, dass auch ich eine Freundin gefunden hatte. Endlich eine Freundin hatte. Obwohl ich ihnen ja schon in der ersten Nacht von meiner mysteriösen neuen weiblichen Bekanntschaft erzählt hatte. Direkt nachdem ich um ungefähr vier Uhr aus der Disko nach Hause gekommen war. Oder es zumindest angedeutet hatte: "Ich habe da jemanden kennengelernt..." Die hätten das eh gemerkt. Die Veränderung. Dafür hatten sie, und besonders sie, meine Mutter, einen Instinkt, einen bösen Instinkt. Den hatte sie schon immer gehabt. Diesen Instinkt, andere gegeneinander auszuspielen, ihre Schwächen und kleinen Bündnisse für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, in ihrer keinen, aber ihr loyal ergebenen Welt. Wie hätte ich auch so was verbergen sollen?! Vor allem, bei all diesen Knutschflecken, die sie mir verpasst hatte. So als wollte sie ihre Beute markieren, ihr Territorium abstecken. Oder war das später? Nein, das war erst später, als ich zum ersten Mal mit ihr geschlafen hatte. Ja, das war später...

Was kam als Erstes? Die Stoffmaus oder Oli? Oder war das ein und derselbe Abend? Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, glaube ich schon. Wie immer fuhr ich mit meinem Fahrrad, diesem Mountainbike, das mir eigentlich schon zu klein war, in die Altstadt, immer an der Bahn entlang. Stellte das Fahrrad ab und klingelte an der Tür in der Alfonsstraße, fast gegenüber der  der lokalen Polizeiwache. Bei Limones. Das war der 14. Februar, Valentinstag, da kannten wir uns also schon mehr als einen Monat. Daher auch die Mäuse. Die später auf mysteriöse Weise in Ecuador wieder auftauchten. Oder zumindest eine davon. Denn das waren zwei. Zwei Mäuse, die sich umarmten, umschlangen mit ihren langen Mäusearmen, an deren Ende sich kleine Klettverschlüsse befanden, damit sie besser hielten. 19 Jahre lang. Wo die wohl jetzt sein mögen? Ob sie die noch hat? Ihrem Neuen irgendeine Geschichte erzählt, wo die herkommen? Und das, obwohl sie am Anfang gar nicht begeistert von den Mäusen war. Das sah selbst ich mit meinem Tunnelblick. Aber was erwartete sie auch?! Von einem Abiturienten, der sich für seinen Vater für drei Monate arbeitslos gemeldet hatte, bevor er zum Bund musste. Obwohl das damals richtig viel Geld für mich war, das Arbeitslosengeld. Einen Diamantenring? Keine Ahnung. Sie ist und bleibt ein Mysterium für mich. Das war genau das Gegenteil von dem, was Corey Wayne eigentlich für das traditionelle Rollenbild von Mann und Frau vorgesehen hat und genau das, was er für Gift für jede Beziehung hält. She was in her masculine. Aber woher sollte ich das damals schon wissen, mit meinen knapp 19 Jahren. Trotzdem hat es gehalten, 19 Jahre lang. Was heutzutage schon fast eine Ewigkeit ist. Nadie te quita lo bailado ... el peso de lo bailado ... la levedad del ser, la insoportable levedad del ser ... nada menos la muerte ... Im Radio läuft fast prophetisch The Power of Good-Bye von Madonna ...

Gangsta’s Paradise – dieses Lied lief damals rauf und runter. Nicht nur in Fernsehen und Radio, sondern in jeder Disko, in die wir gingen. Ich war sogar auf dem Konzert. Alleine, ohne sie. Waren wir da schon zusammen? Ich weiß es nicht mehr, ich glaube nicht. Oder vielleicht doch.

Ich tanzte mit ihr, sang den Text für sie. Ich weiß noch dieses eine Mal, wo wir in Godesberg waren, in dieser Disko, wo viel Rap lief. Sie war verschwitzt – sie schwitzte tatsächlich manchmal, vom vielen Tanzen -, ich sowieso, in der Disko lief Gangsta’s Paradise und wir waren glücklich. So einfach war das damals. Alles, was wir brauchten, waren ein paar heiße, schwitzige, salzige Küsse, ein bisschen Sex, Musik und scheinbar nie enden wollende Gespräche auf Spanisch. Da brauchte ich noch nicht mal Alkohol, um glücklich zu sein, in dieser wilden Zeit zwischen Abitur und Bund. Ein bisschen Bier und das war’s. 

Aber ich greife vor, I'm getting ahead of myself, denn so weit waren wir noch nicht. Ich greife vor oder zögere hinaus, je nachdem, wie man's sieht, denn erst mal kam kam sie, unsere erste gemeinsame Nacht. Warum das Unausweichliche immer weiter hinausschieben, es musste ja irgendwann passieren. Ich muss ja irgendwann sowieso darüber schreiben, mich ihr stellen, ihr und dieser ersten Nacht, meinem ersten Mal. Um sich noch einen letzten Rest Unschuld, einen letzten Rest Unbeschwertheit zu bewahren. Die Initiative ging - anders als im Kino - von ihr aus. 

"Vamos a dormir donde mi amiga ...."

Sagte sie das wirklich, verbalisierte sie es? Oder sagte sie nichts und schleppte mich einfach mit zu der Freundin, zogen uns unsere ständigen Kussarien zu der Freundin? 

Überraschung! 

Sorpresa!

Mit einem Lächeln?

Die Vergangenheit ist ein dunkles, schwarzes Loch, das nur bisweilen von einem einsamen, gebrochenen, verzerrten, gespiegelten Lichtstrahl erhellt wird.

Gefangen in einem Sog aus Schweiß, Spucke, Fleisch und Hormonen landeten wir schließlich in Lauras kleinem Zimmer in diesem Schwesternheim in der Nähe des Rheins. Gefährlich! Aber ich spürte natürlich wieder nichts von der Gefahr, in der ich mich befand, als sie mir Laura vorstellte, eine Freundin aus Ecuador, die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte.

Hola

Hola

Sie lächelte und ich gab ihr brav die Hand, nichts ahnend ...

Laura war schwarz, hatte kurze Haare, eine Brille, ein rundes Gesicht und lächelte freundlich. Wohlwissend ...

Wohlwissend?

Ja, wohlwissend! 

Ihr Zimmer war karg eingerichtet. Fast nichts Persönliches, ein Bett - ja, ein Bett! -, ein Schreibtisch und ... 

... ein Bett!

Und kaum hatte ich fasziniert diese Hautunreinheiten auf ihrer Wange in Augenschein genommen (wusste gar nicht, dass Schwarze das haben) und ein paar warme Worte auf Spanisch mit ihr gewechselt, da war sie auch schon wieder weg. 

Wahrscheinlich hatte sie Nachtschicht im Krankenhaus.

Genau wie ich ...

Überraschung!

Sorpresa! 

Sospresa!

Sobald Laura  zur Tür raus war, fingen wir an uns leidenschaftlich zu küssen (hörten wir überhaupt jemals damit auf, uns zu befummeln und zu beküssen?!) und Nadine öffnete eine Flasche Sekt. Sekt, nicht Sex! Champán, quieres champán? So ein billiger rosafarbener. Wollte ich eigentlich nicht, aber ich konnte schlecht nein sagen. Eigentlich hasste ich das, wie das prickelte. Prickelnder Alkohol, ein Graus! Aber an diesem Abend, in dieser Nacht, war prickelnder rosafarbener Sekt (Kindersekt?) weiß Gott mein kleinstes Problem. Denn da war ja noch dieses, äh, Bett, das das halbe Zimmer einnahm. Und schwuppdiwupp, ehe ich mich versah, lagen wir auch schon drauf, nebeneinander, übereinander, untereinander, halb bekleidet, unser junges, zartes, geiles Fleisch immer unbekleideter und ich zog ihr ihren Slip runter, ohne zu wissen, was ich da überhaupt machte. Das übernahm sozusagen mein Instinkt, dieser urmännliche Autopilot, der in diesen Fällen einspringt und das Ruder übernimmt (no pun intended!). Oder Mutter Natur, ganz wie Sie wollen. Und so sah ich plötzlich ihre braunen, glatten Schamhaare, die kokett zwischen ihren dünnen Schenkeln (patas de pajarito) hervorstippten und darunter ihre ... Scheide? Muschi? Das schwarze Loch, die braune fleischige, wulstige  Öffnung, das Tor zum ... Paradies? Zurück zu Mama? Kramte das Kondom heraus, öffnete es, holte dieses leicht schleimige Ding aus der Packung und versuchte es mir überzustülpen. Ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben. Wie sollte ich auch?! Da war ja nix gewesen, außer ein paar Urlaubsflirts und meinem ersten Kuss mit Aniko in Ungarn. Schließlich war ich gut behütet in Bonn-Kessenich aufgewachsen und das hier, dieses Ding hier, war komplettes Neuland für mich. Feuchtgebiet. Und anders als die Küsse im Kino, bei denen ich meine relativ totale Unerfahrenheit noch gut hatte überspielen können, fluppte das hier nicht so leicht. Das heißt, doch, fluppen tat es, mit ein bisschen Hilfe ihrer Finger. Und ich war drinnen. Aber es war anders als ich mir das vorgestellt hatte. Als ich mir das all die Jahre als Jungfrau vorgestellt hatte. Irgendwie weniger ...