Sonntag, 31. Juli 2016

Nächtlicher Horror









Nachts um kurz vor zwei kommt er nach Hause. Als er vor seinem Haus ankommt, merkt er, dass das Tor zum kleinen Hof auf ist. Und das nachts. Nur einen Spalt, einen dunklen Spalt breit, aber…

…das ist schon komisch. Heute ist María wieder in Deutschland und schon ist nachts das Tor einen Spaltbreit auf…

Ob sie hier war…

…hier ist…

Oder hat er heute Nachmittag, beim Gehen, vergessen, das Tor richtig zu schließen. Das klemmt manchmal bei Hitze, dann geht es nicht richtig zu, Kann ja sein, dass es heute Nachmittag tatsächlich geklemmt hat und nicht richtig zuging und dann heute Abend, als es kühler wurde, aufgegangen ist…

Wer weiß…

Trotzdem: Das hat er eigentlich noch nie gehabt, dass das Tor abends einen Spaltbreit aufstand. Wenn er so drüber nachdenkt. Selbst bei der größten Hitze nicht…

Er tritt in den Innenhof. Alles ist dunkel. Wie immer. Der Kleiderständer, der unter dem kleinen Unterstand im hinteren Teil des Hofs steht, hängt auch noch voller Klamotten. Der Klamotten, die er schon vor etlichen Tagen gewaschen hat. Es scheint alles wie immer zu sein…

Er stellt seine Sachen (seinen Rucksack, die Stofftasche mit dem Hobbit und die Computertasche) vor der Haustür ab, aber schließt nicht direkt auf. Stattdessen geht er zum Briefkasten, um zu gucken, ob er Post hat. Keine Ahnung, warum er das macht. Er hat selber keine Ahnung. In letzter Zeit waren da immer nur Briefbomben drinnen. In Form von Formularen, Scheiße von der Krankenkasse, Scheidungspapieren, netten Briefchen der Finanzvergewaltigung, etc. Oder gähnende, nicht gerade beruhigende Leere…denn die nächste Briefbombe kommt bestimmt! Vielleicht ist es sein Sadomasochismus, der ihn im Dunkeln noch mal zum Briefkasten am Tor gehen lässt. Das jetzt ganz sicher zu ist – er hat es mit einem Knall einrasten lassen. Er will  ja nicht, dass hier nachts noch Leute reinkommen… Und seine saubere Unterwäsche klauen. Vielleicht ist es ja gar nicht so sehr sein Masochismus, der ihn noch mal nachts zum Briefkasten gehen, fast schleichen lässt. Sondern das, was Psychologen „Vermeidung“ nennen. Auf Deutsch gesagt: Er geht zum Briefkasten, um noch nicht reingehen zu müssen. Wo vielleicht María auf ihn wartet. Ja, bestimmt, die ist direkt vom Flughafen hier hingekommen, um heute in ihrem Zimmer zu übernachten. Und nicht bei ihrer Mutter in der WG – wo sie natürlich auch ein eigenes Zimmer hat. Klar, klingt absolut logisch. Aber vielleicht brauchte sie ja ein paar ihrer Klamotten…(die du aus Frackigkeit vor ihrem Abflug extra nicht mehr gewaschen hast)…und ist gleich hiergeblieben…(obwohl du ihr gar keinen Schlüssel zu ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, hinter der Küche, dagelassen hast?! Du öffnest die Klappe des Briefkastens. Das metallische und in der Stille der Nacht doch ziemlich laute Geräusch lässt dich aufschrecken. Aber im Briefkasten ist nichts. Nur gähnende Leere. Aber auch keine Briefbombe. Und keine Werbung. Komisch, sonst kommen doch samstags immer diese komischen Postwurfsendungen. Diese Scheiße, die keine Sau braucht und die wahrscheinlich nur nicht als Werbung durchgeht, weil sie eingeschweißt ist und eine 5-blättrige Fernsehzeitung beinhaltet. Also machst du die Klappe wieder zu – ein bisschen lauter als nötig. Wie das Tor eben. Wie hat T.S. Eliot das einst gesagt: Die Welt endet nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern… Du gehst also wieder zur Tür zurück…solange das Licht, das du schon von draußen angemacht hast und das sich über der Eingangstür befindet, noch an ist. Wenn das ausgeht und du plötzlich im Dunkeln stehst, dann wird dir immer ganz anders zumute. Also schnell rein! Du schließt die Tür auf und betrittst den kleinen Flur. Auch hier ist alles wie immer. Wie du es heute Nachmittag hinterlassen hast. Keine Schuhe außer denen, die auch schon heue Nachmittag da waren, keine Spuren eines Eindringlings… Links die Schiebetür zur Küche und zu Marías Zimmer und rechts die Tür zu deinem Schlaf- und Wohnzimmer und zum Badezimmer. Dazwischen, halb links, die Tür zum Keller, die auch verschlossen ist. Die ist zwar relativ unscheinbar und neueren Datums, wirkt aber immer ein bisschen unheimlich, besonders, wenn du abends nach Hause kommst. Die führt zu dieser Luke, die in den Keller führt. Zu diesem kleinen, dunklen Raum unter der Treppe. Wo dich nachts keine zehn Pferde reinbringen würden…du beobachtest die Tür aus dem Augenwinkel. Da, wo du letztens diese komische Trainingshose gefunden hast. Vom FC Valencia. Komisch. Die hing da im Dunkeln. Leblos. Wie zwei Beine… Darunter waren diese komischen Stiefel. Wie Arbeiterstiefel, aber kleiner. Die müssen zu einem ziemlich kleinen Mann gehören. Wie Rafael. Du hast die Hose genommen, sie María gezeigt, aber die hat nur genervt gesagt: Häng die doch wieder hin. Vielleicht war die ja von dem Arbeiter, der oben die Wohnung wieder hergerichtet hat. Da wo früher die Schwarzen gewohnt haben. Diese Frau mit ihrem Bruder. Die aber schon lang ausgezogen sind. Seit Weihnachten ungefähr. Seitdem ist da keiner mehr eingezogen. Komisch. Obwohl der Vermieter schon öfter da war, um zu streichen und alles Mögliche da oben zu machen. Der Vermieter der aussieht wie ein Totengräber mit Detektivmütze. So einer von Kangol. Die trägt er immer. In der Mitte wohnt auch keiner. Da wohnt zwar offiziell jemand, aber die Frau kriegt immer nur Post und kommt nie hierhin. Er legt dann die Post in den Flur, auf das kleine Schränkchen und die oder ihr Typ kommt die abholen. In letzter Zeit war aber keiner mehr da, die Briefe von den ganzen Inkasso-Büros und Ämtern abholen. Also bist du ganz alleine. Ganz allein. Wirklich? Manchmal hast du das Gefühl, das du es nicht bist. Dieses komische Gefühl, dass da jemand ist, noch jemand, hinter einer dieser Türen. Jemand von dem du nichts weißt. Dass du beobachtet wirst. Du blickst auf den dunklen Aufgang, wo die Treppe nach oben führt, aber nicht lange… Stellst deine Sachen ab und schließt die Küchentür auf. Öffnest sie. Die Holztür mit Glaseinsatz, die zu Marías Zimmer führt, ist zu. Dahinter ist alles dunkel. Ist aber auch klar, das warst du selbst, heute Nachmittag, als du gegangen bist, hast du die zugemacht. Du gehst zu ihr und machst sie auf. Und wenn jetzt María wirklich da ist, dann weckst du sie auf, mitten in der Nacht, noch müde von der Reise. Egal. Du öffnest die Tür.

Es ist niemand da. Wie du schon gedacht hast. War ja klar. Was machst du dir eigentlich für Illusionen?! Was hast du dir eigentlich für Illusionen gemacht?! In deiner blühenden Fantasie. Dunkle Triebe werfende Fantasie. Dir fällt dieser Satz ein. Aus The Revenant, dem Rückkehrer, der vor kurzem mit Leonardo DiCaprio verfilmt wurde. Wo der Rückkehrer nach langer, beschwerlicher Reise an diesem Fort in der Wildnis Amerikas ankommt, nur um festzustellen, dass das Fort keiner mehr da ist. Dass die zwei Männer, an denen er Rache nehmen will, weil sie ihn einfach so in der Wildnis zurückgelassen haben, nicht mehr da sind. Und er zu sich selbst sagt: You’re chasing a mirage. Du jagst einem Hirngespinst hinterher. Du bist wie der Revenant, der Rückkehrer. Nur du willst nicht Rache, sondern Liebe. Du kommst da an, an dem verlassen Fort mitten in der Wildnis, auf der Suche nach Liebe und stellst fest, dass du die ganze Zeit einer Illusion aufgesessen, hinterhergejagt bist und dass die Liebe, die du suchtest gar nicht (mehr) existiert. Während der Rückkehrer merkt, dass die Rache, die er suchte, nicht mehr real ist. Vielleicht solltet ihr tauschen: Du solltest die Suche nach Liebe aufgeben und endlich Rache nehmen und er sollte den Wunsch nach Rache an den Nagel hängen und nach Liebe, Zuneigung suchen. Vielleicht…Aber vielleicht ist das auch viel zu einfach. Es gibt keine einfachen Antworten in diesem Leben. Und dann wiederum denkt er manchmal: Es gibt nur einfache Antworten in diesem Leben. Alles, was kompliziert ist, ist es nicht wert, dass ihm hinterherrennt. María ist auf jeden Fall nicht da, wie er feststellen muss, als er die Tür zum Wohn-/Schlafzimmer öffnet. Warum sollte sie auch? Du jagst einer Illusion hinterher. Sie kommt erst Montag. Obwohl du gesagt hast, dass, wenn sie schon zwei Wochen mit ihrer Mutter im Urlaub ist, sie wenigsten die ganze darauffolgende Woche bei dir verbringen kann.

„Ok…“, hat sie wenig überzeugend und leicht genervt gesagt. Okay…

Du steckst den Stecker für den Fernseher in die Steckdose und er geht an. Auf „Weltuntergangs-TV“, wie du N-24 immer nennst.  Denn wenn wir dem was da läuft Glauben schenken würde, dann gäb es die Menschheit schon lange nicht mehr. Dann wären wir entweder von einem Asteroiden getroffen worden, durch eine  Insektenplage oder Naturkatastrophe vernichtet worden oder durch die biblische Vorsehung und die Sieben Siegel dem Untergang geweiht worden. Darauf hast du jetzt wirklich keinen Bock. Denn deine kleine, persönliche ist schon lange untergegangen. Und zwar genau an dem Tag, an dem sie dich verlassen hat, um genau zu sein. Und jetzt, das sind nur noch die Nachbeben. Dass María dich nicht angerufen hat, obwohl sie bestimmt schon zurück ist. Dass sie dir nur ein paar knappe, nichtssagende Mails aus dem Urlaub mit ihrer Mutter geschickt hat (was du ja auch nicht anders wolltest, weil was willst du schon hören, wie schön es im Urlaub ohne dich ist, nur um dich noch mehr zu quälen). Dass keine Sau sich dafür zu interessieren scheint, wie beschissen es dir geht.

Du schaltest aufs Erste, aber da läuft nur Scheiß. Irgendein Militärfilm. Ein alter noch dazu, Schrott. Und auf dem Zweiten läuft Columbo. Ach, du Scheiße. Den musst du dir jetzt echt nicht antun, dass der kein Deutscher ist, so langweilig und korrekt er immer rüberkommt, das wundert dich schon lange. Aber vielleicht läuft er genau deswegen immer noch in diesem Land. Zwar im Nachprogramm, aber… Aber auf die Privaten traust du dich erst gar nicht, um die Uhrzeit. Da läuft eh nur Scheiß. Karatefilmchen. Action-Scheiße. Dafür bist du zu alt. Und außerdem geht die Batterie der Fernbedienung nicht mehr richtig. Dann kannst du nachher nicht mehr umschalten. Und musst wieder aufstehen, aus dem Bett. Das ist auch Scheiße. Also der komische Film auf dem Ersten. Dieser Scheiß, der von einem versunkenen U-Boot handelt, dessen Besatzung gerettet werden soll, werden muss…

…wie passend, ey…

Anstatt endgültig den Geist aufzugeben, versuchen die die zu retten, tun alles…

…und am Ende…

…keine Ahnung, was am Ende passiert, denn davor schläfst du schon ein. Nachdem du dich wie immer eine halbe Stunde im Bett hin und her gewälzt hast, dich auf den Rücken gelegt hast, dich bis auf die Unterhose ausgezogen hast, gefühlte zehn Mal wieder aufgestanden und dich wieder hingelegt hast und dir die Eier gekrault hast – was auch nichts gebracht hat…

Genau wie das Kratzen an deinem Penis, an der Eichel deines Penis, an dieser einen Stelle, die schon immer nicht so ganz toll war, wo sich schon immer die Haut ein bisschen abgelöst hat…und du nie der Versuchung wiederstehen konntest, sie abzuziehen, bevor sie wahrscheinlich sowieso von sich aus abgefallen wäre, oder an dieser Stelle genau zwischen Eichel und Schaft, die beim Mann sowieso zu den empfindlichsten, erregbarsten am ganzen Körper gehört, gekratzt und geschabt hast, bis du Blut gesehen hast – vorher konntest du fast nie aufhören. Ritzen mit erotischem Nebeneffekt für Arme. So könnte man das vielleicht psychologisch nennen. Das ist aber auch geil, an dieser Stelle, wo dieses Bändchen ist, sie wissen schon. Einen Moment lang versuchst dir sogar, dir einen runterzuholen, um endlich einschlafen zu können, aber das geht auch nicht, das bringt auch nichts, egal an wen du denkst, es klappt nicht, du bist einfach zu müde, zu geschafft… Du stellst dir zwar ein halbwegs williges, halbwegs junges Opfer (haha) vor, aber das turnt dich irgendwie auch nicht an…

…wie sie aus der Dusche kommt, sich mit dem nassen Handtuch auf die Kante des Bettes setzt, in dem du liegst, ihre nassen, roten Haare auf ihrem Rücken, ihre frisch rasierte Muschi unter dem Handtuch…

Scheiße…er will einfach nicht stehen…hat keinen Bock mehr…


Und schon bald kommt das einzige Kribbeln von deinen Beinen, an denen du immer rumkratzt, weil du denkst, dass ein Insekt über sie drüberläuft. Kann ja auch sein, obwohl du gestern geputzt hast. Hier oben in der Nähe des Waldes ist das immer eine Möglichkeit. Wenn du auch den ganzen Tag das Fenster auf Kipp hast… Eine Fliege ist definitiv drinnen…hier irgendwo. Das weißt du ganz genau. Eine fette, glänzende Fliege…

Und das Ausziehen bringt auf Dauer auch nichts. Denn schon bald musst du Nießen, weil es zu kalt wird. Das ist eben die Scheiße an Deutschland. Hier kann man noch nicht mal im Sommer nackt schlafen, weil man dann morgens mit einer Erkältung aufwacht. Aber mit Klamotten geht auch nicht, weil das zu heiß ist…

Es bringt alles nichts.

Du jagst einer Illusion hinterher. Wie man es dreht und wendet

Du kratzt einer Illusion hinterher

Holst dir nur einen blutigen Penis


Und dann nachts – als du endlich eingeschlafen bist – hast du sogar noch einen Alptraum